30. September 2017, Samstag

10:00
Gestern war ein guter Tag, um der Autoaggression zu huldigen. 59,2 Kilo um 8:30 Uhr. Als hätte jemand die Waage manipuliert, oder mein Körper hat schlicht und ergreifend sein „Wohlfühlgewicht“ (seiner Meinung nach) erreicht und es spielt überhaupt keine Rolle, was und wie viel oder wie wenig ich esse. Immer diese vermaledeite Zahl! Aber noch zu gestern… Sebastian ging hoch, ich saß allein auf dem Sofa und guckte erst diesen Film über Magersucht zu Ende, gefolgt von einer Serie, auf die er keine Lust mehr hatte. Was mich dann getrieben hat? Panik? Oder der Umstand, ihn einmal anrufen zu müssen, ihn runter zu zitieren, und das nur, weil ich mein rechtes Bein nicht anwinkeln konnte, dieses wie ein Baumstamm an meiner Hüfte montiert schien. Weil ich für alles „zu blöd war“! Mich einmal umzusetzen, ein Akt sondergleichen! Da befand sich noch Potenzial in diesem Körper, noch ausreichend Gründe, ihn zu bestrafen. Es dauerte Minuten, ehe ich den Rollator dicht genug ans Sofa gezerrt bekam, dauerte eine Ewigkeit, ehe ich alles aus der Tasche nehmen konnte. Und dann gab es kein Halten mehr und ich schnitt und schnitt und schnitt fröhlich vor mich hin, dreißigmal…

Da beginnt meine linke Hand nervös zu klimpern. Das war erst der Anfang. Der Geburtstag muss doch gebührend „gefeiert“ werden, wie jedes Jahr. Mit vielen Überlegungen dahingehend, warum ich lebe und der Junge, den meine Mutter eigentlich bereits vor meinem Bruder bekommen hätte sollen, verabschiedete sich während der Schwangerschaft. Ob mein Geburtstag, das Thema Geschenke als Dreh- und Angelpunkt meiner Probleme zu werten sind.

Sebastian erscheint draußen auf der Terrasse, er war unser Mittagessen für morgen besorgen. Aus dem Wald kommt er zurück mit einem Korb voll mit Parasolen, Riesenschirmlingen. Wie Schnitzel gebacken seit meinen Kindertagen ein Hochgenuss, oder Highlight des Jahres. Früher rannten wir Kinder Ewigkeiten, um die Pilze zusammenzutragen. Und heute der Luxus, auf unserem eigenen Grundstück um diese Jahreszeit die Wiesen und Waldränder übersät mit dieser Köstlichkeit vorzufinden. Und irgendwie entsteht auch der Eindruck, keiner scheint sie mehr zu essen. Früher konnte man am Straßenrand beobachten, wie schnell sie gepflückt wurden. Umso besser für die Pilze und umso besser für uns… Aber jetzt erst einmal wieder auf die Arbeit konzentrieren.

11:16
Ich höre schon wieder „meine Playlist“, das Lied von Lisa Gerrard, die Klangkulisse, das Raunen… Ich trete leicht weg, sehe das Gasthaus, das leere Gasthaus, die Jalousien sind runter gelassen, schwarz und gelb gestreift, das Licht im Gastzimmer diffus. Ich höre die LKWs unten an der Bundesstraße vorbeidonnern… Und ganz plötzlich schreit in mir alles nach einer Überdosis, nach Koma und nach Blut…

Aber wenn du dann betäubt malst, geht’s dir gut, oder?“, Markus‘ Frage gestern. „Das kann man SO nicht sagen?“. Es ist und bleibt durchwachsen. Als sei dieses Musikstück der Schlüssel in mein Unterbewusstsein und das, was ich da zumindest schon einmal fühlen kann, scheint so schlimm zu sein, dass ich meine Standardstrategien auffahre. Auch meine Augen werden plötzlich ganz müde, träge, als stünde ich bereits kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Es fiel mir schwer, beim Dosieren morgens nur drei Hübe vom Tramal zu nehmen. Folgen meines Rauschzustandes waren mitunter die Doppelbilder abends. Natürlich war ich todmüde, erschlagen, geplättet von dem ganzen Chemiezeug. Ich konnte mir das Fernsehbild zweimal ansehen. Ob ich in einer halben Stunde spazieren gehe, es versuche? Eine Ausfahrt ist definitiv geplant, und wer weiß, eventuell packe ich meine „Drogen“ mit ein, um unterwegs, wenn der Schmerz auf meinen ehemaligen Laufstrecken zu groß wird, die Seele „medikamentös zu behandeln“. Jetzt aber zurück zur Musik…

12:00
Und plötzlich sehe ich meine Mutter sterben. Sebastian hat ihr gesagt, dass ich gerne zu den Pilzen einen Krautsalat haben würde. Ich sehe meine Mutter im Auto sitzen, wegen mir nach Jennersdorf fahren, voller Vorfreude, wiederum mir eine Freude bereiten zu dürfen… Um sie dann plötzlich mit offenen Augen tot im Auto liegen zu sehen… WAS IST DAS NUR FÜR EINE ELENDE SCHEISSE, WAS SIND DAS FÜR ZWANGSGEDANKEN??!! Natürlich stelle ich sofort wieder die Verknüpfung mit diesem schrecklichen Film als Kind her, dem kleinen Jungen, verstrahlt von einem Atomtest, der noch freudig zum Weihnachtsbaum rennt und dann tot auf seinen Geschenken liegt. Ist es von mir zu simpel gedacht, dass das die Erklärung sein könnte? Oder mich andererseits wieder mit der schweren Frage auseinandersetzen müssen, WAS HABE ICH DIESER FRAU ANGETAN???

Völlig aufgelöst, in Tränen hier sitzen und prompt beginnt es zu krampfen.

18:29
Wer hätte das für möglich gehalten, oder habe ich es nicht bereits vorausgesagt? Der Spaziergang war anfangs mies. Von der Qualität her natürlich nicht so mies wie jener gestern. Aber dann, ja dann wurde es besser und besser und noch besser. Ich erreichte etwa 850 m und 1 km wäre auch noch locker drin gewesen. Etwa 72 Minuten. Aber kaum von Sebastian abgeholt, kaum auf dem Sofa, wieder dieses miese Gefühl…

Es darf dir nicht gut gehen!!

Und genau das sagte ich dann auch Sebastian. Er verstand es nicht, schüttelte den Kopf und war ohnehin mehr mit dem Fußballspiel beschäftigt. Aus dem Grund nahm ich mittags 20 Tropfen und etwas später, bevor ich mich mit dem Rollstuhl auf den Weg machte, weitere 20. Davon habe ich nichts gespürt, was mich ein wenig verärgerte. Aber die Dose mit den Klingen hatte ich eingepackt, als er mal kurz nicht in meine Richtung sah. Es war ein schöner Ausflug, streckenweise eiskalt und ich entsetzt über mich selbst, wie man die jahrelang antrainierte Abhärtung einfach so in kürzester Zeit verlieren kann. Ich bin zur richtigen Tussi verkommen! Eine Frostbeule! Ich wurde gar nicht fertig, die eingepackten Schichten peu à peu überzustreifen. Die Reise ging dieses Mal nach Oberhenndorf, zur Therme, daran vorbei und schlussendlich am Bach entlang. Direkt nach der Therme fuhr ich in eine kleine Seitenstraße, die rechts den Hügel hinaufführte und links und rechts mit Wald von der restlichen Straße abgeschirmt war. Erst entleerte ich den zum Bersten gefüllten Katheterbeutel und entsann mich dann meiner Spielzeuge. Davor rief noch Sebastian an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Genau in dem Moment, als ich die Klinge aus der Dose nahm und den linken Ärmel hochzukrempeln versuchte, was mit all diesen Schichten gar nicht so einfach war. Also telefonierte ich kurz, machte Späßchen, legte auf und verpasste meinem Unterarm sechs neue Schnitte. Als die Fahrt dann weiterging und die sonst so ruhige Straße am Bach entlang aufgrund irgendwelcher Umbaumaßnahmen zur Umfahrung erklärt worden war, musste ich einmal kurz halten. Der Katheterbeutel war verrutscht, der Schlauch schliff auf dem Boden. Erst fuhr ein Grazer an mir vorbei, hielt wenige Meter nach mir und stieg aus, um mich zu fragen, ob ich Probleme hätte. Gleichzeitig blieb das nächste Auto, das von hinten kam, direkt neben mir stehen. Josef, der Taxifahrer vom letzten Mal: „Bianca, alles in Ordnung?“. Ich war kurzfristig überfordert mit so vielen Hilfsangeboten auf einmal. Meinte zum Städter: „Das ist sehr nett, aber nein, alles in Ordnung…“, und ich pfriemelte weiter an dem Knoten herum. Der Mann im Anzug, etwa unseren Alters, sah mich an: „… Das hier ist nur eine etwas ungünstige Stelle, wo Sie stehen…“. Schlussendlich ließ ich mir doch von ihm helfen. Wusste er, was er da anfasst? Wenig später kam Sebastians zweiter Anruf, wie gewünscht. Er sei gerade in Königsdorf und da mir ohnehin schon eiskalt war, ließ ich mich direkt abholen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Ausflug war schön. Aber egal ob ohne oder mit Musik… Ich erinnerte mich entweder an meine Kindheit, an Ausritte mit Kolga oder ans Laufen. Ganz speziell an diesen einen Lauf mit 21 nach einer Chemotherapie, den direkten Tag danach, als ich hier diesen Berg erklommen hatte, meine erste Halbmarathondistanz ohne jegliche Pause zurücklegen konnte. Um am Tag darauf unter der Masse an Nebenwirkungen vom Endoxan zusammenzubrechen, und das für die nächsten Tage. Also mein stetiger Begleiter auf dieser Reise die Wehmut. Aber die Schnitte schmerzten leider nicht. Darum nennt man es ja auch „Ritzen“ und nicht „Aufschlitzen“ in der Fachsprache.

Was ich jetzt geliefert habe? Volle Dosis vom Opioid und obendrauf eine Gewacalm. Wenn schon denn schon! Vor mir eine Schale Tee, die einzige Lichtquelle die kleine Kerze darunter im Stövchen. Die Augen werden müde und Martha hat sich jetzt nach dem Abendessen zum Glück das Lamentieren erspart; sie muss sich irgendwo hingelegt haben. Der Heizstrahler neben mir holt die Lebensgeister zurück in meinen erfrorenen Körper. Die Stimme wird heiser, der Hals kratzt. Wunderbar!

Draußen wird es Fenster, 19:10, mein Rücken total verspannt, ich unbeweglich. Die warme Luft vom Stromfresser erreicht nur unzureichend sein Ziel. Der Tee ist viel zu süß und augenblicklich habe ich mehr Lust, eines meiner Videos zu gucken, anstatt aktiv etwas zu unternehmen. Zu müde, zu geschlaucht…

20:05
Erst kommt Sebastian von oben runter, flutet binnen Minuten den Raum mit dermaßen viel Leben, dass ich damit nicht klar komme, die Betäubung verabschiedet sich. Er sagt, er geht in die Wanne, schließt die Tür hinter sich und aus heiterem Himmel krampft die Blase und ich pisse mich von oben bis unten an… Das Sitzkissen bekommt etwas ab, unter mir auf dem Boden eine kleine Pfütze…

DU BIST DAS LETZTE!!!!

Hatte ich im Video doch gerade eben versucht, Markus‘ Ratschlag anzuwenden. Liebenswürdiges an mir zu entdecken, zuzulassen und Rumpelstilzchen Paroli zu bieten. Mit ihm zu diskutieren…

Aber nun liegt das besudelte Tuch auf meinem Schoß, ich hasse mich!! Noch ein Gewacalm oder noch mehr Tramal? Mich für die schnellere Variante entscheiden; sechsmal die Pumpe betätigen. Ich weiß ja nicht, wie lange er heute badet, dementsprechend gleich zur Tat schreiten, die Dose aus der Tasche holen, der Arm sollte dank Heizstrahler warm genug sein! Die Tücher arrangieren. Die Rasierklinge in die Obhut meiner Wut übergeben. Mach es ordentlich!

Im Nu sind es 30 Schnitte, aber das Blut läuft kalt den Arm hinab. Der Harnstreifen gerade eben ergab kein eindeutiges Bild davon, was mit mir nicht stimmt. Wer weiß das schon, vielleicht alles die Psyche… (Sage ich mit einer leicht hysterischen Stimme.) Nein, der Arm ist nicht anständig durchblutet, die Gefäße zusammengezogen, der Körper wehrt sich gegen meinen Angriff. Der Blick fällt auf das Schlachtfeld, auf die komplett mit Blut überzogene Oberseite vom linken Unterarm, nur noch an den Enden der Wunden treten tiefrote Perlen hervor. Aber brennt es zumindest? Bei jedem Schnitt mir selbst gesagt: „Stell dich nicht so an, den Schmerz hältst du aus!“. Ich hätte auch eine neue Klinge wählen können. Aber das Tramal senkt zumindest allmählich den Vorhang. Den ebenso besudelten Schlauchverband überstreifen und meinem Liebsten nachher wieder ein oscarwürdiges Schauspiel darbieten. Tief durchatmen. Alles wegräumen. Auf dem Tuch zumindest ein paar Schichten tiefer gehend der Fleck. Den Ärmel lang ziehen. Nachts muss ein Armwarmer meine Schandflecken verbergen. Er fragt nicht, er kann es sich denken, und ich will aber auch nicht, dass er nachbohrt…

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