29. September 2019, Sonntag „Arsch auf Grundeis!“

17:50
Muss das sein, tut das Not? Sebastian fragen: „Bin ich eine schlechte Tochter? Bin ich eine undankbare, verkommene Tochter?“.
Der Tag war einfach zu schön, das Wetter einfach zu schön. Als wir nach dem sehr späten Frühstück zu Mittag kurzerhand doch noch zum Feuerwehrhaus fuhren, damit ich wählen kann, kam ich zwangsläufig mit den Außenbedingungen in Kontakt, und es wäre eine Schande gewesen, diesen Tag wieder einmal nur im Wohnzimmer vor meinem Computer zu verschwenden. Obwohl es mit dem Rollstuhl überhaupt keinen Spaß mehr macht. Und ich hoffe, hoffe inständig, dass er mich morgen nicht schon wieder versetzt, ich morgen endlich einen Ersatz bekomme, und dieser vor allem 10 km/h drauf‘ hat!
Es war sehr spät, als ich losfuhr. Zuerst hielt mich der eine Nachbar an,, er hätte etwas für mich. Erst war ich irritiert, aber schaltete zügig: „Du wirst doch nicht etwa mein Haarband gefunden haben?“. Eines der beiden Bunten von dem Stand der Ecuadorianer, glaube ich mich zu erinnern. Ich hatte es doch vor vier Tagen bei meinem Ausflug verloren, war extra es suchen gefahren, hatte Sebastian extra meine Strecke mehrfach mit dem Auto entlang gejagt, ihm immer wieder vorgeworfen, er hätte seinen Pulli, den ich an diesem Tag getragen habe, noch nicht ordentlich umgekrempelt und ebenso ordentlich nachgeschaut zu haben, ob es sich nicht darin verbirgt. Ich war so dankbar, weil die Farben so schön herbstlich sind… Macht mich das Ding „glücklich“?
Zwangsläufig denke ich an meine Farbtuben, dass ich dieselben Farben in meinen Kisten und Schubladen habe, und dass ich sie nie wieder benutzen werde… Mir kommen die Tränen.
Dann hielt mich eben der zweite Nachbar an, um sich mit mir über Gott und die Welt zu unterhalten, lustigerweise, was er von Religion hält, nämlich genau genommen nichts, was ihn mir gleich noch sympathischer machte, und das Thema „Patientenverfügung“ wurde eingängig auseinandergenommen. Mehrfach sagte ich, ich müsse jetzt weiter, ich wolle noch runter zum Fluss. Und kam doch nicht vom Fleck. Sicherlich eine halbe Stunde, wenn nicht noch länger, ehe ich endlich den Absprung schaffte. Aber es war nicht schlimm. Die Panik hielt sich in Grenzen, fühlte mich nicht so dermaßen gehetzt. Und die Fahrt war schön, weil der Tag schön war. Gleich hintereinander mit mehreren unterschiedlichen Insekten das Vergnügen gehabt alle vor meine Linse bekommen. Viele Radfahrer, alle grüßten freundlich zurück, eine meinte sogar, ich sei ja ganz schön flott unterwegs, woraufhin ich nur den Kopf schütteln konnte. Geplant war, so weit zu kommen wie möglich. Zur Lafnitz, da noch versuchen den Berg nach Unterhenndorf zu schaffen, und dann weiter sehen, wann mich Sebastian abholen muss. Wollte noch ein paar Aufnahmen für den Film machen, weil das benutzte Material nicht unbedingt den Anforderungen entspricht. Ich hatte gerade eben erst auf die Bundesstraße eingebogen, dieses kurze Stück, vielleicht 100 m, ehe es links weiter auf der Dorfstraße gehen würde, zum Fluss, DEM Fluss meiner Kindheit und Jugend. Dieses lange Stück zwischen Königsdorf und Gillersdorf, gerade bei DEM Wetter, zu DER Jahreszeit, direkt nach der Diagnose, meine letzte beste Freundin und ich, jeden Tag am Inlineskaten.

Daran musste ich denken und wurde ein wenig wehmütig. Und wie ich da so fahre, kommt von hinten ein Auto, das mir bekannt vorkommt. Aufs Kennzeichen habe ich nicht geachtet. Konnte nur beobachten, wie der Wagen auf der Bundesstraße neben mir langsamer und langsamer wird, ohne ersichtlichen Grund, und gleich mehrere Autos hinter sich ausbremst, und dann noch dazu ohne zu blinken plötzlich links abbiegt, noch wenige Meter fährt und dann rechts am Wegesrand zum Stehen kommt. Hatten nicht meine Eltern so einen Wagen, hatten wir diesen nicht erst vor ein paar Tagen bei entfernter Verwandtschaft stehen gesehen? Ich schüttelte nur den Kopf, brabbelte in meinen imaginären Bart hinein: „NEIN!! Bleib‘ bloß nicht stehen!! Nein, nein, NEIN!!!“. Mir ging der Arsch auf Grundeis! Schlagartig packte mich Panik, eine fette Panikattacke, ich hatte das Gefühl, erwürgt zu werden, keine Luft mehr zu bekommen, nicht länger atmen zu dürfen, und dazu wieder Minimum 20 Ziegelsteine in meinem Magen!! Ich wagte es nicht, hinüber zu sehen. Fühlte mich schon schlecht und schuldig und dreckig, ob meiner Gesten und Mimik. Und vor einfach geradeaus, weiter auf der Bundesstraße bleibend!

Während ich das schreibe, beginnen beide Hände zu klimpern. Angst. Panik. Ich WILL meine Eltern nicht sehen. Ich KANN meine Eltern nicht sehen. Ich halte es nicht aus. Das Kopfkino vermutlich völlig überzogen, übertrieben, aber meine Gefühlswelt im Aufruhr! Dazu diese Schuldgefühle: „Was tue ich allen an? Wie kann ich es wagen? Mich zurückzuziehen? Meine Gefühle, meine Angst über das Wohl diese armen Leute zu stellen, über das Recht, dass sie auf ihre Tochter haben??!!!“.

Wie zum Henker sollte ich reagieren? Was war angemessen?
Prompt ereilen mich Dejavues. Wie bestellt, wird serviert. Selber schuld. Hat nichts zu bedeuten.
Mit sicherem Abstand, und weil der Wagen nicht hinterher kam, nicht an mir vorbei fuhr, hielt ich kurz, wühlte in meiner Fototasche hinter mir am Rollstuhl, um die schwarze „Büchse der Pandora“ zu suchen und zu finden. Als ich die Rasierklingen sah, dachte ich ernsthaft, ich will eine davon schlucken. War davon überzeugt, ich MUSS eine davon schlucken! Als Strafe, Wiedergutmachung, Vergeltung! Stattdessen fingerte ich zwei weiß-rote Kapseln heraus, die ich mir unverzüglich in den Mund stopfte. Und schluckte. Fühlten sich ebenfalls an wie ein Ziegelstein, hinterließen im Hals, in der Speiseröhre, in meiner Kehle den gefühlten Eindruck eines solchen, der dann zu allem Überfluss noch stecken geblieben sei. Und jetzt, die Derealisationen, der Eindruck, im nächsten Moment einer Dissoziation anheim zu fallen, Produkt des Morphiums. 5,2 mg Morphin. Beruhigt es mich jetzt? Dachte ich doch, war felsenfest davon überzeugt, kaum zu Hause, müsse ich mich nach allen Regeln der Kunst massakrieren. Während er mir in der Küche wieder einen dekadenten Milchkaffee kochte, der viel zu viele Kalorien hat und mit an meiner Gewichtsmisere beteiligt ist, das hat die Vergangenheit gezeigt, schrubbte ich endlich das alte Blut von meinem linken Unterarm. Während er jetzt oben mit seiner Mutter telefoniert, denke ich immer noch, es bedarf einer angemessenen Bestrafungsaktion durch mich selbst. Meine armen Eltern. Meine arme Mutter. Was tue ich ihnen an? Was sind das für perfide Vorwürfe, die da im Raum stehen, und sich lediglich auf meine Emotionen stützen, weil keinerlei Erinnerung, nichts als Ängste und ein „ausgedachtes inneres Kind“, das DAS alles nicht mehr aushält???

Kindheitserinnerungen. Schön. Banal. Und mit Todesangst vergiftet. Ohne rational erkennbaren triftigen Grund. Beide Hände klimpern bis 4, zählen bis 4, tun so, als könnten sie mich damit einfangen und beruhigen. Bedarf es härterer Bandagen? Unterleibsschmerzen. Meine Verdauung streikt. Und die Ladung Schmerzmittel wird dieser Causa ebenfalls nur noch mehr Brisanz angedeihen lassen…

Er sagte: „NEIN! Du bist keine schlechte Tochter!!“. Sagt er das nur, um seinen Frieden zu haben, weil er weiß, dass ich das hören will? Er verneint dies, meint, auch ohne Erinnerung mich auf meine Gefühle und Ängste zu berufen und daraus zu reagieren, sei kein Zeichen irgendeiner Undankbarkeit und Ungerechtigkeit meinerseits. Pflichtet mir bei, dass diese Gefühle nicht ohne Grund existieren. Weil mir DAS jedes Buch über Missbrauch und Traumafolgestörungen sagt. Weil mir das jeder Psychologe und Psychotherapeut sagt. Aber, unterm Strich, bin ich die Kleine, die sich dreckig gemacht hat, die schuldig ist, die schlecht ist… Und sehe mich bei diesem Lichteinfall hinterm Gasthaus sitzen, vielleicht mit neun Jahren, auf einem der Nussbäume, und weine ins Abendrot hinein, weil meine Mutter stirbt, weil ich sie sterben sehe, ich keine Zukunft ohne sie habe, weil ich schuld bin und aus diesem Dilemma NIE IM LEBEN HERAUSFINDEN WERDE!!!

18:46
Beide Hände gelähmt. Ein Räucherstäbchen anstecken, mir gönnen, obwohl ich es nicht verdient habe. Mir den vorläufigen Schnitt, den Anfang mit der Musik zu Gemüte führen. Beim Gedanken, beim Diktieren erfasst mich die nächste Panikwelle. Darf nicht… Nicht SEIN. Alles von mir ein Verbrechen. Die Hände klimpern. Die Strafe wird kommen, unweigerlich, früher oder später. Warum ich heute nicht aus dem Bett kam, und mehrmals um Aufschub bat, ehe er mich endgültig aus den Federn montierte? Die ganze Nacht durch gekrampft. Kein Heilmittel. Ich zerrte an den Beingurten, mal links, mal rechts, meine Extremitäten wechselten sich gerecht ab, jeder kam zum Handkuss, keiner wurde benachteiligt, erst recht ich nicht. Oder prügelte auf meine Oberschenkel ein. Mal links, ein oder zwei Stunden später dann rechts. Kein Ende in Sicht und Angst, Sebastian um den Schlaf zu bringen. Aber er meinte: „Ich bin das schon so gewöhnt, ich merke es gar nicht mehr!“.