8:34
59,9 Kilo um 6:45. Die gesamte Meisenfamilie trifft sich im „Chez Paridae“. Die langschwänzige Verwandtschaft, die Schwanzmeisen, die Stargäste des Tages. Es schneit und ich habe Kopfschmerzen. Diverse Sachen von A nach B räumen, die Hälfte davon landet ohnehin auf dem Boden und wird dort liegen bleiben, bis ich Sebastian vermutlich explizit darum bitte, sie aufzuheben. „Nein… Da ist nichts!“… Nachts ausgelaufen. Wieder sitze ich auf einem Turm aus Tüchern und Pippimatte (über dieses Wort haben sich die Zivildiener gestern sehr amüsiert). Das Gefühl nicht los werden, auf dem Rollstuhl nicht aufrecht sitzen zu können. Die Herrschaften bei der Rollstuhlanpassung waren aber anderer Meinung. Die Ergotherapeutin sagte, der Rückenteil würde kippen. So oder so, ich habe Rückenschmerzen, alles verspannt. Und bei der Hinfahrt vermutlich ob dieser plötzlichen Überflutung mit Stress (Volkshilfe und drei nasse Jungs im Flur, die Dreck machten) mit den Zähnen geknirscht; in Bröseln verabschiedete sich ein weiterer Teil eines Zahns.
Aber schwer seufzen und währenddessen versuchen, wieder einmal zumindest auf der Leinwand Ordnung herzustellen. Ich muss mich jetzt endlich entscheiden! Krähe eins oder zwei? Um 11:00 Uhr wieder Sitzung; die Verbindung war immer noch am besten vergleichsweise mit anderen Terminen. Da fällt mir wieder ein, geplant zu haben, die durchsichtige Schutzfolie aus Plastik, die auf dem Keilrahmen liegt, an der Stelle einzuschneiden, wo ich die Krähe platzieren möchte. Aber welche… Das ist die Frage!!
Genau genommen befinde ich mich wieder am Anfang. Vier Bilder. Krähe oder Dohle? Das Licht spiegelt sich äußerst ungünstig auf dem Leinen. Unterdes hocken gleich mehrere Amseln verteilt in den Ruinen der Himbeerstauden wie Verbrecher und beobachten sich missgünstig gegenseitig. Das Licht einschalten. Mich morgens oben rum ausgiebig gewaschen, nichtsdestotrotz stinke ich erneut zum Himmel. Das ist doch einer dieser Sätze, den ich inflationär benutze. Man könnte Werbung einbauen, für irgendein Deo, und so Geld verdienen… Oder simpel: Nur noch copy + paste! Ich muss das Headset abnehmen und mich endlich auf die beschissene Aufgabe konzentrieren! Sonst wird das nie was!! Das ganze Projekt mittlerweile (nach 1200 Stunden von „mittlerweile“ zu sprechen klingt beinahe wie ein Witz) viel zu verkopft!! Keine intuitiven Entscheidungen möglich. Saatkrähe oder Dohle? Die Augen der Dohle sind toll. Dafür sieht ihr großer Verwandter auf dem Foto eher aus wie ein Verbrecher und würde dem Täter mehr gerecht werden. Was mache ich?…
16:55
Den Tag den Bach runter gehen lassen. Im erneut zweieinhalb Stunden dauernden Gespräch mit Markus wurde klar, warum ich mich kurz davor doch für die Dohle entschieden habe. Diese graue Kapuze… Eigentlich weiß, soll das schwarze Gesicht verdecken, ist aber beschmutzt und deswegen grau. Die Augen… Sie sind anders als die von meinem Seelenvogel. Auch haben wir herausgearbeitet, bzw. habe ich mich hinein gefühlt, warum gerade die Nebelkrähe für mich das Symbol der Seele ist. Die schwarzen Beine, Flügel, der schwarze Kopf… Das allein genügt, um einen Umriss erkennen zu können. Eine Fassade der Seele. Aber der Torso grau. Grau wie Nebel. Ebenfalls beschmutzt und zugleich nicht fassbar, weil irgendwie gar nicht da, nicht zu mir gehörend. Die Augen der Seele sind braun, tiefgründig. Jene der Dohle stechend, gefährlich.
Da war noch viel mehr, aber ich habe nicht die Zeit noch die Energie, all dies festzuhalten. Mit wenigen Worten brachte mich mein Therapeut zurück an den Punkt, an dem ich entweder meiner Ratio oder Rumpelstilzchen Gehör schenken muss. Die Ratio gibt ihm recht. Es ist alles so dermaßen „eindeutig“. Auch fragte er heute, was Rumpelstilzchen eigentlich zu meiner MS sagt. „Das ist wie im Film vom letzten Einhorn. Der rote Stier, auf dem er reitet, und mit dem er mich zerstören will…“. Er sprach von der Theorie einer „Pseudo-MS“, davon, wie sehr die Psyche den Körper beeinflussen und mitunter eben auch zerstören kann. Die Tatsache, dass meine Lumbalpunktion negativ war, dass meine MS kurz vor meinem 18. Lebensjahr ausgebrochen ist, dem Alter also, das für mich als „Deadline“ für mein Dasein stand. Mit zu vielen Ängsten verbunden war, die ich nicht zu überleben glaubte… Außer, ich würde ein Kind bleiben. Würde nicht gezwungen sein, erwachsen zu werden. Ich wollte nicht erwachsen werden. Ich konnte es nicht. Und plötzlich ist man krank und von all den mit Horrorvorstellungen verbundenen Herausforderungen befreit. Hätte nicht besser kommen können. Passte doch zu der scheinbar bewusst getroffenen Entscheidung, es dürfe mir nicht gut gehen.
Markus hatte mit allem Recht. Würde es jemand anders genauso berichten, sofort würde ich die Zusammenhänge erkennen, ich wüsste Bescheid. Aber so sagte ich: „Doktor Ratio gibt dir recht, nickt, schreibt einen Befund, schickt ihn ab… Aber dieser wird nicht bei mir ankommen.“. Viele Zusammenhänge, viele Dinge, die ich fühlte… In mir wurde gemauert. Ich durfte es nicht fühlen, ich konnte es nicht fühlen und kaum ausgesprochen, mir selbst vorwerfen, es nur konstruiert zu haben, damit es ins Bild passt.
Mir geht es scheiße. Etwa um 15:30 Uhr saß ich auf dem Rollstuhl, nachdem ich auf dem Sofa wieder kurz eingeschlafen war. Sebastian fuhr einkaufen, das Wetter, die Straßenbedingungen sollen die nächsten Tage beschissen werden. Ich stand auf, um den Beutel zu entleeren. Kaum zurück meldete sich mein Darm, erneut schlurfte ich ins Bad… Ich konnte die neue Einlage nicht in die Unterhose montieren. Ich konnte die Hose nicht wieder hochziehen. Um während dieser zeitfressenden Prozedur unentwegt zu gähnen, immer schwächer zu werden und aus meiner Nase lief unaufhörlich Wasser. Zurück im Wohnzimmer zog es mich wieder zur Couch. Unfähig. Tief in mir drinnen pulsierende Unruhe. Als hätte mich ein Schreck aus dem Schlaf gerissen. Als wäre ich zehn Stockwerke hinauf gesprintet. Die Blase krampfte, wieder Urin in der Einlage, bestialische Schmerzen in Form von brennenden Neuropathien in beiden Händen, als würde ich diese in ätzende Säure tunken.
Zu schwach. Zu kaputt. Alles bleibt liegen. Meine ganzen Ideen.
18:29
Nervenzusammenbruch. Sebastian wollte gerade hoch, ein Fußballspiel hören und ich hatte ihn gebeten, mir noch die Hose hochzuziehen. Stand auf und lief aus… Während ich in Richtung Badezimmer schlurfte brach ich in Tränen aus: „Nein!! Ich bilde mir alles nur ein!!!… ICH bin die Gestörte!! Da ist nichts passiert!!… Und dennoch war mir beim Anblick von meinem Bild während der Sitzung zum Heulen zumute, obwohl ich davor gut drauf war… Und nicht umsonst schrieb ich in mein Tagebuch, dass die beste Methode seitens des inneren Kindes, mich zu quälen, das ist, was es am besten kann und kennt!… Aber nein! Ich bin nur hysterisch! Ohne triftigen Grund!…“, usw. und so fort. Ich weiß weder ein noch aus. Sebastian tat alles, damit ich mich wohl fühle. Rücken eingecremt, Blasentee gekocht, eine Decke über die Beine, eine Banane für den Blutzuckersturz, zudem noch ein kleiner Schokoriegel… Im Badezimmer einen Teststreifen gemacht. Nicht schlau aus dem Ergebnis werden. Warum ist so viel Glukose im Urin und zeitgleich habe ich einen hypoglykämischen Ausfall? Leukozyten waren da keine, aber alles andere war zu hoch.
Ich sehe mich am Wochenende erneut ins Krankenhaus pilgern. Bevor er ging, bat ich ihn noch um meine Medikamente: „Ich brauche jetzt eine höhere Dosis, ich will diesen Körper nicht mehr spüren!“. Sebastian meinte, er hätte volles Verständnis dafür. „Also hältst du mich nicht für einen Junkie?“. Darauf er: „Nein. Weil du es nicht leiden kannst, total die Kontrolle zu verlieren. Dafür bist du viel zu kontrolliert!“. Doppelte Dosis Tramal, 2,6 mg Morphium, ein Novalgin. Es krampft und krampft. Tröpfchenweise kontaminiere ich die fünfte Einlage an diesem Tag. Seit gestern kratzt es im Hals. Bin ich noch krank oder nicht? Das Bild vor mir im Licht der Lampe, das Lächeln, es macht mich traurig. Entweder weil ich zu diesem Zeitpunkt abzüglich des Wassers in den Beinen und Armen sicher an die 49 Kilo hatte? Oder weil es nicht ECHT ist? Eine Fassade? Nichts als eine Kulisse mit bunten Schmetterlingen… Eine lächelnde Leiche… Der nächste Blasenkrampf. Die Hände brennen. Vergebens die Versuche, am Katheter herum zu manipulieren, ihn tiefer in die Blase zu schieben. Dieses arrogante Arschloch!!! WARUM hat er keinen Urintest gemacht??? Scheiß Narzisst!!! Hab ich sein Ego verletzt??
Es wird 18:59 und ich laufe vollständig aus. Nun doch eigenmächtig die Antibiotika vom Hausarzt einnehmen? Ich werde jetzt nicht aufstehen und erneut ins Badezimmer pilgern. Ich kann, ich will nicht mehr. Ich habe meine gesamte Jugendzeit und auch in den zurückliegenden 20 Jahren, bis das mit dem Katheter losging, keine Antibiotika gebraucht. Sie werden mich schon nicht umbringen. Und wenn doch, auch in Ordnung. In meiner Pisse hocken. Ich hasse mich…
… Aber warum lösen die letzten drei Worte die nächste Tränenflut aus?
Selbstverliebtes STÜCK SCHEISSE!!
Noch mehr Tramal. Erneut 40 Tropfen, doppelte Dosis. Musste dieser Absturz kommen? Ginge es mir besser, würde ich den Rauschzustand mit ein paar selbstgeernteten Endorphinen aufhübschen? Meine Rasierklingen befragen, was sie von all dem halten?
Panik.
19:19
Am Video arbeiten. Am depressiven Teil. Es krampft. Ich mach mich nass. Die Extremitäten brennen. Der Atem stockt. Aber es geht mich nichts mehr an…
Blutige Bilder von Anfang 2000 raus suchen. Passend zu der Aufnahme eines Gemetzels, kurz vor der Reha. Ja. Ich werde es einbauen. Um Aufmerksamkeit zu erheischen, auf Teufel komm raus? Oder mein verkorkstes Leben, das schon immer in der „Öffentlichkeit“ stattgefunden hat, ob ich will oder nicht, zu einem „Kunstprojekt“ zu erklären? Kunst kennt keine Grenzen. Der Öffentlichkeit ins Gesicht kotzen, was sie mit mir macht. Während (gefühlt) zugesehen wird, wie ich vor die Hunde gehe… Sebastian tut mir jetzt schon leid, das ansehen zu müsen.
19:36
Einen blutenden Himmel als Tagesintro auserkoren. Die Betäubung auskosten. Besser als mich in den induzierten Schlaf zu flüchten; die Kreativität atmet erleichtert auf, kurzfristig befreit von den Ketten der Angst…