09:13
59 Kilo um 6:45 Uhr. Seit ich hier am Computer sitze, entgleitet mir alles. Nach dem Frühstück ein Räucherstäbchen angesteckt, wollte doch eigentlich nur nachsehen, wie diese bei den Ingredienzen angeführte „Champa-Blüte“ aussehen soll. Da waren noch unzählige Registerkarten offen von gestern, von der letzten Suche nach Benzos? Bleibe erst einmal wieder bei dem Artikel hängen, sehe die Auflistung von diversen Wirkstoffen, Untergruppen, Narkosemitteln. Von dort aus weiter gesucht, mit Hauptaugenmerk auf eben Narkotika. Ganz wichtig: Überdosierung. Von dort aus weiter zum Sänger von Linkin Park, zum Sänger von Soundgarden, während die Zeit weiter und weiter läuft. Erst ganz am Schluss sehe ich mir das Gewächs an.
Als ich dann endlich die nötigen Fotos und die Stoppuhr öffne, funktioniert letztere nicht mehr. Das war doch bereits gestern so… Die nächsten 10 Minuten verstreichen, ehe ich sie wieder vermeintlich hergestellt habe. Aber aus den Einstellungen ausgestiegen, übernimmt er diese nicht aufs Programm. Den Computer neu starten, Trommelwirbel… Pustekuchen. Zu allem Übel scheint auch noch die Sonne zum Vorschein zu kommen. Natürlich bin ich von gestern noch ordnungsgemäß bedient; musste nachts mit dem Rollstuhl ins Bett fahren, konnte keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, und ebenso morgens mit meinem schwarzen Ferrari ins Bad und dann ins Wohnzimmer kullern. Die Vernunft gebietet, diesen Rausch nun mindestens zwei Tage lang verrauchen zu lassen. Im Beipackzettel vom Kortisonspray steht mitunter als häufige Nebenwirkung „Nesselausschlag“. Nicht mehr vor noch zurück wissen. Was ist richtig und was ist falsch, sehe ich doch gelinde gesagt ausreichend zum Kotzen aus! Ob nun Cortison oder Sonnencreme oder einfach nur Sonnenausschlag oder weil ich so eine fette Sau bin, deren Haut den Eindruck erweckt, als würde ich sie seit Tagen mit einer dicken Schicht ranzigem Frittierfett einschmieren!! Ich bin so ekelhaft, die Visage kaum gewaschen, glänzt sie erneut wie ein frischgebackener Krapfen.
Jetzt ist es eben soweit! War es ein Fehler, mich per Mail mit Mieke über einen möglichen Vormittagsbesuch zu unterhalten? Der an diesem Tag zumindest das Malen schon mal abhaken würde?
Und nun wahrscheinlich viel fataler, mit dem Tagebuch begonnen zu haben… Meine Gedanken, jeder meiner Gedanken will nun wieder „zu Papier“ gebracht werden, jeder Anteil von mir will seinen Senf dazu geben…
Es verstreichen sage und schreibe 5 Minuten, nur für das Foto der aktuellen Entwicklung am Gemälde. Der Buntspecht würde gerne ans kalte Buffet, aber direkt davor auf der Bank im Wohnzimmer sitzt Fine und putzt sich das Fell. Die Farbschalen öffnen, die Kleckse befeuchten, die Pinsel in die Hand nehmen, obwohl ich längst Schlimmeres im Sinn hatte. Angefangen bei irgendwelchen Medikamenten bis hin zur Rasierklinge. Selbst Rumpelstilzchen bläut mir ein, dass es viel zu spät ist. Er will, dass ich meinen speziellen Musikordner öffne und mich abschieße.
Dezente Kopfschmerzen, während draußen der Himmel allmählich blau wird. Alles an und in mir wehrt sich dagegen, jetzt zu arbeiten. Am besten einen Pullover anziehen und mit der Kamera raus, bevor ich alles verpasse! Oder den Comic fürs neue Projekt zeichnen…
Zugleich aber…
DU WIRST NIE FERTIG WERDEN!!! ES IST VORBEI, GIB AUF!!!
Markus wollte von mir wissen, welche Qualität die Blockade in mir hat. Wie sie sich anfühlt. Depressiv? Oder von Ängsten genährt, zu versagen, schlussendlich wieder mit der Lähmung konfrontiert zu sein?! Oder bin ich tatsächlich nur ein faules Stück Scheiße??? Was bedeutet dieses „Ich kann nicht!“?
Ich weiß es nicht? Ich würde mich auch jetzt lieber aufschlitzen, als Farbe auf die Leinwand zu bringen. Was ist das für eine seltsame Alternative? In mir sperrt sich alles gegen die Aufgabe! Noch klimpert die Rechte… Aber mir droht alsbald ein böses Ende…
VON WEGEN!! DAZU MÜSSTEST DU ES ERST EINMAL RICHTIG MACHEN!!! Da ist so viel Speck!… Es kann doch nicht so schwer sein, tiefer in diese wertlose Masse hinein zu schneiden!!!
Alsbald wird es 10:00 Uhr. Beide Hände klimpern. Die Schälchen wieder bedecken, wiederum auf die Schälchen ein weißes Tuch breiten, damit die Sonne die Farbe darunter nicht austrocknen kann, vom Weiß eher reflektiert wird. Mein Schicksal scheint somit besiegelt! Selber schuld! Mit dem ersten Abschuss vor zwei Tagen die Weichen für die nächste längerfristige Episode gestellt!
Den Kopf senken, mich beim Bild entschuldigen und dann eine neue Schale Tee kochen… Ich versage…
10:22
Mir Morphium besorgen, ehe ich wieder am Tisch Platz nehme.
Eine Hasstirade entlud sich mehrfach lautstark in der Wohnküche. Und obwohl ich „die Suppe“ zum Kochen gebracht habe, wird Sebastian zum ersten Opfer meiner Wut: „Warum zum Teufel räumst du das dreckige Geschirr nicht dorthin, wo es hingehört?! Warum stellst du es zu den Brotkörbchen?! Bist du so dumm oder einfach nur faul??!!“. Dann bin kurz ich dran, als ich vor dem Kühlschrank vergesse, was ich eigentlich wollte…
WIE SAUBLÖD BIST DU EIGENTLICH??!!!
Um nahtlos mit der Volkshilfe weiter zu machen, als ich vor dem Geschirrregal stehe und meine einstmalige Ordnung nur noch einer kleinen Postapokalypse genügt: „WAS SOLL DAS, VERDAMMT NOCH MAL!!! WAS IST DENN DA SO SCHWER ZU VERSTEHEN, WELCHE SCHÄLCHEN WO HINGEHÖREN??!! Wie blöd muss man sein, um die Glasschälchen zwischen die Keramikschälchen zu stellen, wenn daneben zwei Stapel NUR mit Glasschälchen stehen??!!“.
Ungerecht, es tut mir leid. Und wie gesagt, bin ich Ursprung allen Übels. All dem voraus, als ich aufstand, fiel aus irgendeinem Grund das Brotkörbchen vom Rollertor, die gebrauchte Teeschale zersprang in 100 Teile, der Holzboden voll mit Splitter und Teeresten. Zu diesem Zeitpunkt blieb ich noch ruhig, ganz ruhig, denn ich befand mich bereits auf dem Weg zum Schafott, das Urteil gesprochen! Weiter mit Schimpftiraden nun gen korrekte Adresse ging es dann im Badezimmer, beim Zähneputzen, vor dessen Erledigung ich noch zehn Hübe Tramal geschluckt habe. Währenddessen 100 total schwache Kniebeugen gemacht, und während das Wasser allmählich heiß wurde, noch meine dümmliche Visage gewaschen. Als würde die widerwärtige Akne davon weg gehen!! Kaum die richtige Temperatur erreicht, den linken Unterarm von Blutresten befreit, Hände und Arm heiß aufgewärmt. Schon denke ich, mir läuft die Zeit davon. Die Tablettendose öffnen; ist und bleibt eine von gleich zwei Büchsen der Pandora!
Mir ist beinahe zu lachen zu mute, während der Tag draußen von Regen auf Sonnenschein umstellt. Wie viel Morphin darf es sein? Besser mehr davon, als diese vermaledeite chemische Psychoscheiße! Das Risiko lässt sich zumindest einigermaßen einschränken: Bestenfalls bin ich nach einem Tag voller Spastik morgen wieder halbwegs hergestellt.
Hofft die blöde Kuh!!
Warum machst du es nicht gründlich? Bis er nach Hause kommt?… Hast du gut 2 Stunden!!
Um meine Augen herum bildet sich ein Ring aus Watte. Vor mir auf dem Tisch das alte Handtuch. Ich erinnere mich… Kinderzeiten… Da war es auch schon da. Aber hatte definitiv eine andere Funktion als jetzt! Das Rot vom Blut überwiegt, was die Farbe betrifft. Das Blut hat alles verklebt. Nur meine Hände sind erneut eiskalt.
Hör auf, die Tabletten nur anzuschauen!! Friss sie endlich!!
Tun, wie mir geheißen.
„Wie müsste Bianca aussehen, dass Rumpelstilzchen mit ihr klar kommt?“.
Ich zeichnete das Bild eines magersüchtigen Kindes, einer magersüchtigen Jugendlichen. Kaum oder noch besser keine sekundären Geschlechtsmerkmale. Und innerlich so verhungert, dass sie eigentlich längst tot ist…
Damit sie gefälligst die Schnauze hält, nichts mehr sagt, die Nutte! Sie ist ja selber schuld, AN ALLEM!!! Damit Sie schweigt!! Früher und erst recht später und ganz besonders für immer!!!
Ein weiblicher Kernbeißer nähert sich dem Restaurant. Der Buntspecht macht aber dermaßen Tumult und verscheucht regelmäßig alles und jeden.
Die Arme verschränkt. Das Erdnusssäckchen ist der Renner schlechthin. Die neue Räucherstäbchenpackung morgens mit einem alten Skalpell geöffnet. Da meldete sich schon die Sehnsucht.
Aber es bringt doch nichts! Die Rasierklingen schärfer, wie auch immer das sein kann. Hätte ich andere bestellen sollen, vielleicht nicht so billig?
Sebastian zeigte sich gestern doch ein wenig entsetzt, dass ich mich erneut abgestellt hatte. Er würde das jedes Mal merken, hat der schon oft gesagt. Wirklich? Vermag er Depression von Dröhnung zu separieren?
Während ich mehrfach und mühevoll das letzte Hauptwort korrigieren muss, meldet sich die Panik. Ist sie nun eine Werkzeug Rumpelstilzchens oder tatsächlich ein eigener Anteil, also Symptom eines Anteils…
„Nein! Was schwafelst du von Anteilen?? Das ist nichts als ein Symptom!! Und selbst das bildest du dir nur ein, um Aufmerksamkeit zu bekommen!“
Mir läuft die Zeit davon! Gleich ist es 11. Süßstoff in den Tee. Ich könnte die Heizdecke unter das besudelte Handtuch legen; vielleicht bringt es was.
Da fällt der Kopf plötzlich in den Nacken. Heroin auf Rezept, freundlichst gesponsert von IHRER burgenländischen Gebietskrankenkasse! Der Mund bleibt offen. Ich bin so schlecht und ich sollte tot sein. Angesichts dessen, was da auf mich zukommt, was es noch an Schritten zu tun oder zu bewältigen gilt, wäre es definitiv zum Wohle aller, die da von mir schäbigerweise noch mit reingezogen werden, wenn nicht sogar ein großer Segen, ich würde endlich den Mund halten und mich töten.
Endlich mit dem „kleinen Tod“ anfangen…
Dabei in den letzten Tagen so viel wie noch nie mit Sebastian über meinen ersten Suizidversuch gesprochen. Und erst recht über meine ständigen Ankündigungen, was diese mit ihm anrichten.
Es wird 11:04; versuchen, das Handtuch irgendwie behelfsmäßig zu falten. Jene Seite, mit den frischen und noch feuchten Flecken nach oben, um das weiße Kleid nicht in Mitleidenschaft zu ziehen und so mich selbst zu verraten. Ich hätte schon viel früher auf die Idee kommen sollen, mir schwarze Stulpen zu bestellen…
Von der blauen mit der Aufschrift „Salmix- Salmiakpastillen N“- zur goldenen „Fishermans’s Friend“-Büchse der Pandora wechseln. Ich hatte in der letzten Zeit einen hohen Verschleiß. Unzählige Klingen geöffnet und wieder in ihr Kuvert gesteckt, nicht sicher, ob sie schon komplett verbraucht seien. Erneut Zeit fressen und in der Dose aufräumen. Ich könnte ja auch mit den gut 20 blutbesudelten Stücken wieder eine Art „Kunstinstallation“ machen, sie auf die aktuelle Leinwand kleben. Da sind doch so viele weiße Leerstellen…
11:12
Nun wird es aber endgültig Zeit! Mit der rechten Hand auf den Unterarm klopfen. Gleicht eher einem Akt des Verprügelns. Hoffentlich klingelt es nicht an der Tür. Meinen speziellen Selbstmordordner in die Playlist ziehen. Verdammt! Es ist Mai! Da gehört das dazu!!! Der eine Typ, an dessen Geburtstag sich der Sänger von Linkin Park das Leben genommen hat, hatte seinerseits für den eigenen Selbstmord ebenfalls den Mai gewählt! Meine Oma starb am 23., ich versuchte es am 21. und die kleine Amsel, die damals, als ich selbst ein kleines Mädchen war und im Frühlingsregen unter dem Fliederbusch saß, in meiner Hand ganz langsam dahin siechte und dann ganz wie in Zeitlupe die Augen für immer schloss, eben DIE kleine Amsel, die zum Synonym für mich als kleines Kind, das ich gerade doch selbst noch war, wurde, DEM kleinen Kind, „das irgendjemand seelisch umgebracht hatte“… Das wird wohl auch Mai gewesen sein. Ich hatte das hübsche Kleidchen von der Erstkommunion an. Oder die Feierlichkeiten von jemand anderem, von einer Familie, deren Kind Erstkommunion feierte… Erstkommunion ist doch im Mai?
Es war definitiv Frühling, weit fortgeschrittener Frühling. Der Flieder blühte…
Die Musik läuft. Die nagelneue Rasierklinge zur Hand. Der Schädel voll mit Watte. Wie viel Kontrolle wäre ich unbewusst „unterworfen“, würde die Taubheit auch den Arm erfassen?
Wäre nur nicht alles so kalt, so eiskalt…
Mit derselben Kante beginnen wie gestern schon. Die Haut wie trockenes, rissiges, uraltes Papier. Oder Pergament.
Plötzlich huscht ein Lächeln über meine Lippen… Zögern. Das ist für dich, inneres Kind. Erinnerungen überschwemmen mich, Bilder aus besseren Zeiten. Wie der oft zitierte Film, der vor den Augen eines Sterbenden im letzten Moment vor dem Exitus abläuft…
Doch dann geht der Blick auf die Uhr, 11:31 Uhr, Herzrasen… Warum kann Sebastian nicht wegbleiben? Warum lässt man mich nicht allein?! Warum immer zeitlichen Grenzen unterworfen?
Die Kante ist zu sachte. Und das Blut läuft kalt über den scheinbar noch kälteren Arm… Das Werkzeug umdrehen. Beim achten Schnitt etwas fester, aber die Rasierklinge versinkt nicht. Aufgehalten von einem dichten Maschendrahtzaun aus Narben. Das Blut gerinnt zu schnell. Wieder, immer noch eine Anämie. Ich fantasiere von zumindest dem EINEN Schnitt, wie jedes Mal. Und wie jedes Mal zum Scheitern verdammt?…
Das Kernbeißerweibchen wagt sich endlich ins Restaurant.
Es riecht nach Blut. Ich müsste einmal richtig „ausholen“, nicht schneiden, stattdessen die Klinge ins Fleisch schlagen… Versuche es schnell. Versuche es langsam. Die Haut auseinanderziehen… Lächerlich! Unterm Arm eine kleine, aber dicke Pfütze. Ich denke, ich müsste draußen in der Sonne sitzen, müsste ganz viel getrunken haben, der Körper müsste aufgeheizt sein, und dass jeder weitere Versuch von vornherein zum Scheitern verdammt ist, unter diesen aktuellen Umständen. Die Zeit rennt nebenher. Kommt er früher, kommt er später? Mir nur noch einen letzten Versuch gewähren…
LOS!!!! DU BIST SO EINE ENTTÄUSCHUNG!!!
Aus einem werden vier weitere Schnitte. Aber sie bleiben nicht ernstzunehmende Linien.
Nach einer Überdosis würden sie das im Krankenhaus nicht einmal bemerken!!
HAST DU GEHÖRT, DU WIDERWÄRTIGE SCHLAMPE??!!
Das wäre NIEMANDEM auch nur eine Notiz wert!!
Dabei will ich doch nur, dass es jemand sieht, „die Zeichen erkennt“ und mich endlich erlöst…
WAS BIST DU?!!!! EIN BABY???!!!
Kleinlaut, geläutert, geduckt, beschämt die Rasierklinge in ihr gelbes Kuvert einschlagen. Einen Strumpf überstreifen. Dabei rutscht der halbe Ärmel wieder in die letzten Wunden. Ein Wunder, dass man von außen das Blut nicht durchsickern sieht. Und ich soll jetzt ernsthaft gleich wieder funktionieren? Aber was sonst? Wie solle ich meine Situation nachvollziehbar erklären?
Die linke Hand eine Faust. Die Finger der rechten lassen sich auch nicht mehr strecken. Wie immer hoffen und im guten Glauben, keine sichtbaren Spuren hinterlassen zu haben. Tuch und Klingen wandern zurück in meine ehemalige Lederschultasche. Wagte jemand einen Blick hinein, würde er entsetzt und angewidert zurückschrecken und sich wohl spätestens dann das korrekte Bild meiner Wenigkeit in seinem Kopf zeichnen. Was bin ich schon?
ABSCHAUM!…
Den rechten Zeigefinger in den Mund stecken. Wie auch den Daumen; alles voll mit Blut, um sodann mit dem nassen Finger auch die Flecken vom linken Oberarm auslöschen.
Und draußen schließt die Sonne die Augen, ist fertig mit mir.
https://www.youtube.com/watch?v=wVIXlo845zA
17:31
Ich hielt es neben Sebastian auf dem Sofa nicht aus. Meine Gedanken rutschten ab, ich dachte an die abendliche Sitzung und die Panik strangulierte mich. Wieder und wieder riss sie mich hoch, meine Füße baumelten in der Luft, sodass ich außerstande war etwas anderes zu denken, als DAS ALLES nicht überleben zu können! Ich fühlte mich schuldig, als ich aufstand. Zu allem Überfluss. Irgendwann würde ich sagen, die Zeit mit ihm nicht bewusst wahrgenommen zu haben. Käme zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass es nun zu spät ist. Ich weinte; ganz kurz. Dann schluckte ich zwei Betablocker. Einfach nur ein Symptom oder das Kind? Wieder das Gefühl, mir in die Hose zu machen. Blasenskrämpfe.
Ihn mit einer Einkaufsliste losgeschickt. Ich selbst fuhr nach draußen, hinter mir versteckt einen kleinen Frotteefetzen, in meiner Bauchtasche die Rasierklingendose und ein Skalpell ebenfalls im Gepäck. Ich stand mit dem Rollstuhl bereits vor dem Wannenteich unterm Hollerbusch, hatte Stulpe und Verbandstrumpf abgestreift, als er plötzlich wieder zurück kam. Ich erkenne unser Auto am Motorengeräusch und erst recht an Sebastians Fahrstil. Was nicht heißen soll, dass er rast. Hastig stülpte ich zumindest den schwarzen Schlauch wieder über und tat so, als würde ich den Teich beobachten.
Er hatte ein Formular für den Hausarzt vergessen, das ich ausfüllen hatte müssen. Dann war er wieder weg, ich sah auf die Uhr, berechnete einen realistischen Zeitrahmen, zog das Skalpell aus seiner Plastikfolie und begann zu schneiden… Quer über die zuvor entstandenen Reihen.
Also das ist des Rätsels Lösung!! Diesen vermaledeite dreckigen Körper ausgetrickst!! Was hat er gemacht? Versucht, den von mir verursachten Schaden zu heilen. Hatte die Durchblutung im Unterarm verstärkt, angeheizt.
Und genau dieser Umstand kam mir zugute! Die Schnitte waren sicherlich nicht tief. Nicht tiefer als jene zuvor. Insgesamt zwölf lange Schnitte. Der 13. entstand aus Versehen, als ich das Blut mit einer doch noch scharfen Klinge vom Arm schabte und mir dabei ins Handgelenk geschnitten habe. Ich blutete in den Teich. Minute um Minute. Wie eine abgestochene Sau…
Was du ja eben auch BIST!! UND NICHTS ANDERES!!!
Und blutete und blutete und blutete…
Nach 20 Minuten den Stofffetzen auf den Boden geworfen, nun die Suppe darauf tropfen lassen. Und es blutete und blutete und blutete. Heiß lief mein Leben die weiße, kalte Haut hinab. Verklumpte zwischen meinen verkrampften Fingern. Ließ sich aber nicht aufhalten. Blutete und blutete und blutete.
Die Socken, die Hose, den Rollstuhl, den Asphalt, das helle Blech vom Teich mit meiner Schuld vollgespritzt.
So wurden es wohl 30 Minuten, eine halbe Stunde. Notdürftig drehte ich das nasse Laub auf dem Boden um, auf dem ich Spuren hinterlassen hatte. Fuhr zurück ins Haus, im Spiegel mein Gesicht vermeintlich blass. Gut 10 Minuten am Waschbecken meine Hände und den Lappen so gut es ging gewaschen, um letzteren dann in die Waschmaschine zu stecken. Zum krönenden Abschluss wieder alles vertuscht, die Armstulpe mein treuer Verbündeter.
Pünktlich. Er kam gerade zurück und ich gab mich völlig normal. Es donnerte und begann zu regnen; den ganzen Computerkrempel wieder ins Haus geschleppt, mit seiner tatkräftigen Hilfe. Und jetzt, da nur noch 3 Minuten bis zur Sitzung bleiben, erneut das Gefühl, jemand drücke mir die Kehle zu. Weg der Rausch von den Tabletten, erst recht die Betäubung vom Blutverlust. Wieder die blaue Dose holen. 2,3 mg Morphium.
Am Schluss: Morgens per Zufall gelesen, dass eine Überdosis mit Lioresal sehr häufig letal ausgeht. Gerade das Medikament, von dem die Ärzte nichts wussten und sich wunderten, warum die Antagonisten nicht anschlugen.
Dem Tod doch näher gewesen als gedacht? Stolz drauf?…
20:24
Im schwindenden Licht sitzt der Kuckuck oben am Waldrand und ruft. Die Sitzung war… so schmerzhaft.
Die Panik als Ritterrüstung inneren Kindes, in schwarz-weiß und voller Zorn auf mich. Weil ich unser beider Versprechen nicht eingehalten habe. Mich (uns) mit 18 nicht umgebracht. Nein, es sogar noch schlimmer gemacht! Sebastian kennengelernt und so getan, als könne ich ein sexuelles Wesen sein!! Und das Kind damit erst recht ein weiteres Mal verraten!!
Markus platzierte dieses in dem Bild, mit dem wir arbeiteten, an meinen Maltisch. Mir vis-a-vis. Er saß rechts am Kopfende, Rumpelstilzchen auf der anderen Seite. Hasstiraden wurden hin und her geschickt, mir wieder und wieder klargemacht, ich müsse mich zum Wohle aller umbringen… Weil ich doch so ein schlechter Mensch sei, eine Gefahr für das Kind, das Kind hätte vor mir…
Ehe sich einige Veränderungen auftaten.
Ganz ehrlich? Gleich zu Beginn ließ mich die Panik am kurzen Strick in der Luft baumeln, verzweifelt nach Luft ringend. Und ich teilte meinem Psychoanalytiker mit: „Mir ist gerade danach, unverzüglich aufzulegen!“. Mich zu drücken. Zu flüchten. Wegzulaufen… Weg vor der Angst, der Wahrheit, dem Ungemach, direkt hinein in den nächsten Rausch, die nächste Betäubung, unverzüglich hinein in den Tod.
Um mich kurz zu halten. Das innere Kind hasst mich, verabscheut mich. Aber ich keinen Deut besser. Und am Schluss der Therapie saß das Kind in seiner Erdhöhle mit den Spielzeugpferdchen. Geschrumpft, um darin Platz zu finden und sich verschanzen zu können, und die Pferde zum Leben erwacht. In der Höhle war es vermeintlich sicher… Wie ich es immer wieder zu Kinderzeiten gespielt habe. Um die Höhle herum nun ein Stacheldrahtzaun. Die Panik als Stacheldrahtzaun. Eine Art Prüfung. Das Kind, so schien es mir, erwartet, dass ich mich in den Zaun stürze und dort verharre, dem Schmerz zum Trotz, den schrecklichen Ängsten zum Trotz… Um ihm zu beweisen, stark genug zu sein, gemeinsam mit ihm die Erinnerungen aufzudecken, gemeinsam mit ihm diesen schwierigen Pfad zu beschreiten. Ohne es weiterhin eine Hure zu schimpfen. Es als Kind wahrzunehmen. Ein Kind, das nichts dafür kann, was ihm widerfahren ist.
Während der Sitzung zusätzlich mindestens 20 Tropfen Tramal eingeworfen. Vielleicht waren es auch mehr, ich weiß es nicht.
Die Fragestellung, wie soll ich mit der Angst umgehen… Ich wünschte, und das teilte ich ihm auch mit, mich dann jedes Mal an den Zeichenblock setzen zu können und ohne nachzudenken vor mich hin zu kritzeln. Intuitiv das Unterbewusstsein seine Sprache finden lassen… ABER…
Er wiederum meinte, ich könne die „Bilder“, die ich nicht zeichnen oder malen kann, weil die Hände gelähmt sind, auch im Tagebuch mit Worten entstehen lassen.
Hoffnung?
Meine Augen verdrehen sich, machen einen Knoten. Ich habe ganz seltsame Schmerzen, ein seltsames Gefühl. Nicht unbedingt im Gedärm, aber darüber, und unterhalb vom Magen. Es brennt, es drückt und breitet sich nach rechts aus, in Brust und schlussendlich Oberarm. Die Augen verdrehen sich, kein Licht an und ich könnte unverzüglich einschlafen. Die Reste vom Tee trinken.
Nahtlos an das Gespräch Sebastian zu mir ins Wohnzimmer zitiert, gebeten, ihn angefleht, mit lediglich einer Bitte: „Bitte!! Halte mich einfach für einen Moment ganz fest!!!“.
Da sehe ich mich als Kind in einer Erinnerung, es sieht aus wie eine Bildspur im Videoprogramm, aber die Untertitel verändern sich plötzlich…
Im Wachzustand zu träumen beginnen. Jedes Mal, wenn sich meine Augen beim Blinzeln länger schließen als gewollt, und selbst dann, wenn ich verzweifelt versuche sie aufzuhalten. Ich bin fertig. Fertig mit diesem Tag. Fertig mit der „Scheiße“? Morgen alles anders machen? Es zumindest versuchen? Und tatsächlich Urlaub vom Bild nehmen?
Mich verunsichert fühlen und irgendwie bekomme ich gerade einen Schweißausbruch. Doch darüber nachzudenken, tritt die nächste Angstlawine los…
Mir selbst einreden, in mich hinein sprechen: „Inneres Kind, ich nehme deine Ängste wahr. Ich habe dieselben Ängste. Aber gemeinsam ist man standhafter, dem Paniksturm ausgesetzt, als allein dagegen anzukämpfen oder schlimmstenfalls aufzugeben!! Ich möchte versuchen, dich zu verstehen! Ich möchte für dich die Erwachsene sein. Keine Schlampe, wie auch du keine Nutte sein kannst! Dich schützen…“.
Rumpelstilzchen sagt, das sei alles esoterische Kacke! Aber angestrengt versuchen, nicht darüber nachzudenken. Nicht jetzt, nicht mehr heute… Für heute war es eindeutig genug. Ich kann und ich will nicht mehr, und draußen beginnt es zu regnen…
Alles ist in Ordnung. Die Welt geht nicht unter. Alle leben. Keiner tut mir etwas an. Das Kind sicher in der Höhle. Am warmen Lagerfeuer, zusammen mit den Pferden. Während draußen der Regen stärker und stärker wird… Will nur noch aufs Sofa, etwas essen und Sebastians Hand halten.
