13. April 2018, Freitag „Glückloser Freitag?“

9:06
„Was tust du mir damit bloß an?!“; das waren meine Worte gestern Abend zu Sebastian. Mal im Ernst… Macht er das absichtlich oder empfinde ich es soeben als untragbaren Zustand? Mehr noch als in anderen Phasen meines Daseins? Fenster aufgerissen, das erste Räucherstäbchen verbrennt ohne geholfen zu haben. Ich hätte in der Papiertüte in der Küche nachsehen sollen, dort, wo der Plastikmüll hinkommt. Oder im Bioeimer?
Die Schweizer Verwandtschaft war also da. Die Schwester meines Vaters. Und hat wie beinahe gewohnt „Appenzeller“ mitgebracht. Meine Eltern wollten ihn nicht. So hat ihn Sebastian bekommen. Mit der Erzählung, man hätte lediglich nach mir, „der Künstlerin“, gefragt und auch noch schöne Grüße für Sebastian ausgerichtet, meinen Bruder wiederum vergessen, samt Familie. Und so hat sich Sebastian abends mit dem restlichen Stinkekäse eine TK-Pizza verfeinert… Mir genügt es eigentlich schon, den „schlechten Kühlschrank“ für 1 Sekunde zu öffnen. Darin befindet sich immer irgendetwas, das widerwärtig riecht! Käse, Wurst, Fleisch!!! Zumindest für meine schwachen Magennerven und mich. Da genügt schon wenig, um den Verdauungssack einen Purzelbaum schlagen zu lassen. Der Gestank ist kalt bereits nicht auszuhalten. Und dann macht er sich das Zeug auch noch auf die Pizza und legt sie für 9 Minuten in die Mikrowelle!!!

Während er aß, hielt ich mir die Nase zu und atmete verzweifelt durch den Mund. Dass es heute noch so dermaßen miefen würde… Mir ist schlecht. 59,3 Kilo um 6:45 Uhr. Sättigung ist aktuell relativ zügig erreicht. Nur überhören darf ich sie nicht. Auch war ich so kurz davor ihm zu sagen, was in mir vorgeht. Es blieb bei der flüchtigen Aussage, er sei gefühlt so weit weg und dass ich mir die Schuld dafür gebe. „Hör endlich auf mit diesem Scheiß!! Wer hat dir eigentlich diesen Blödsinn in den Kopf gepflanzt?! Ich bin krank, ich fühle mich nicht gut, aber ich freue mich auf nichts mehr, als nach Hause zu kommen und du bist da!“. Der Moment war schlecht. Zwischen einer Comedysendung, Fieberthermometer und Grippebrause unterhält es sich nur schwerlich über erneute Suizidsehnsüchte…

Grandios gilt der Umstand zu bezeichnen, dass mein Rücken trotz all dieser Analgetika, dieser starken Analgetika, nicht aufhörte zu schmerzen. Und heute geht es dazu auch noch extrem flott, ehe mein Kreuz verspannt. Egal wie ich sitze… Steilvorlage für den nächsten Missbrauch. Ich wurde missbraucht, oder bilde es mir zumindest ein, und dafür missbrauche ich jetzt andere Dinge, die sich nicht wehren können. Ich höre die ganzen Tabletten in meinem Mund um Hilfe schreien… (Ironie aus!) Meine Gesichtszüge machen sich wieder selbstständig. Heute Abend steht eine kleine Grillparty an, hier, bei uns. Nicht wissend, wie ich sie überstehen soll. Allein die körperliche Problematik betreffend.
Noch warten mit dem Abschuss oder gleich anfangen? Ich wollte ja noch… Möchte doch so gern… Wäre am liebsten… Kann ich mir meinen Rollstuhlausflug knicken? Habe gleich diverse Bäume ausgemacht, in denen in den nächsten Wochen Kinder zu erwarten sind. Hauptsächlich waren es Stare, die ich fleißig beim Einzug beobachten konnte. Dazu noch eine Stelle im Wald, die total ruhig ist, wo ich mich hinstellen sollte, um die Vögel zu mir kommen zu lassen. Wieder die Kamera in der Hand; auf der Terrasse entweder ein Zilpalp oder Fitis. Hat die ganze Nacht geregnet, die schön geputzten Scheiben dreckig. Der Fokus bleibt ständig an den Regentropfen auf dem Glas hängen.

Scheinbar fehlt mir ohnehin die Konzentration, um zu arbeiten…

9:59
Erst 1 Stunde gemalt. Eine Physioübung gemacht, unterdes wieder aufgestanden, den Biokübel vor die Tür gestellt. Darin Rinde und Reste vom Käse. Das zweite Räucherstäbchen anstecken. Um den kleinen Kübel herum herrschte ein infernalischer Gestank! Bei der Gelegenheit den Vögeln ein paar Haferflocken gegeben und für die Buchfinken, also dieses eine Pärchen, ein paar Kerne direkt auf die Terrasse. Mich minutenlang abärgern, das Stromkabel der Heizdecke hat sich irgendwo am Rollstuhl verheddert -wie gewohnt. Meine rechte Hand beginnt zu klimpern; ein schlechtes Zeichen. Ich kann, ich mag schon wieder nicht mehr. Viel zu unruhig. Ich will raus! Raus aus diesem goldenen Käfig!!
Für einen kurzen Moment mich meiner Morgendosis besinnen, dessen, was ich gestern alles gefressen habe, um tief in mir irgendwo noch ein paar Ressourcen aufzutun, die mich etwas runterkommen lassen…

11:00
Zwei volle Stunden knapp verfehlt. Passend zum Sonnenschein ein Klassiker nach dem andern von der Playlist fürs Laufen 2010. Ich hab das Gefühl in den Beinen, ich weiß, wie es sich anfühlt…

Aber dabei untätig zu bleiben, macht aus der gefühlten Erinnerung eine Narbe, die wie gerade ein weiteres Mal aufbricht und blutet. Kann ich ein paar Schritte gehen? Die Einfahrt einmal runter und wieder zurück? Ich sehe den Wind, spüre den zähen Schleim hinten meinen Gaumen hinab fließen und bekomme bereits eine prächtige Ahnung davon, wie meine Kopfschmerzen hinterher aussehen könnten. Das Lied läuft immer noch, Sevendust mit „Burn“. War eines der wenigen Stücke, bei denen ich mich an die Länge des Liedes halten konnte, bis die nächste Pause ansteht. Alle 10 Minuten. Und was war ich stolz, wenn ich dann noch ein weiteres Lied geschafft habe…
Für 2 oder 5 Minuten stand ich dann. Obwohl die ersten 2 km noch in einem Mal möglich waren. Und ist schlussendlich auch nur der repräsentative Ausschnitt des stattfindenden Abbaus, der mich alsbald brechen würde. Eigentlich nicht mehr als in Stücke zerschnittene Läufe, und ich hatte immer Angst, nur ein einziger könnte denken, ich müsse halten, weil die Ausdauer nicht reicht, weil ich zu schwach bin… Scheiß Lähmung!
Lange ist’s her… Wird verstauben, schlussendlich verschwinden wie alle anderen Erinnerungen auch. Zurück bleibt der Schmerz. So war es beim Pferd, beim Tanzen, dem Inlineskaten und schlussendlich dem Laufen, das den größten Teil meines Lebens ausmachte. So wird es auch mit dem Malen sein.
Meine Hände klimpern, die Stimme bricht schnarrend in sich zusammen.

2009-04

17:07
Blauer Himmel, Schäfchenwolken, zartes Grün… Postkartenidylle! Wäre da nicht dieser Wind. Allein der Blick nach draußen genügt, das penetrante Pochen in meinem Schädel wird immer heftiger. Und ich soll da hinaus? Zum Grillen? Diesen einen Punkt nach dem Mittagessen verpasst, zu lange neben dem schlafenden Sebastian auf dem Sofa geblieben, um natürlich schlussendlich selbst einzuschlafen. Das habe ich davon… Den gesamten Nachmittag bis jetzt. Mein Hintern tut weh. Entweder der Ischias oder die Sitzbeinhöcker. Genau wie die rechte Ferse, die heute Nacht so höllisch schmerzte. Teilweise baute ich den Reiz in meinen Traum ein. Und ja! Jetzt habe ich doch eine gewisse Panik davor, dass das Thema „Dekubitus“ möglicherweise nicht so aus der Luft gegriffen ist.
Oder ein Grund mehr auf meiner ellenlangen Liste, warum und wieso und weshalb ein Suizid zu befürworten wäre?

HYPOCHONDER!!!

Jan ist da. Der erste und vielleicht einzige Gast heute. Sebastian hat mir vor seinem Einkauf den Rücken mit dieser Höllensalbe (Rubriment) eingeschmiert. Vielleicht war es zu viel des Guten, zu viele von den sauren Gummibärchen, mein Magen brennt, Sodbrennen, mir ist schlecht, der ganze Körper brennt, eben nicht nur der Rücken, und ich fühle mich richtig schön beschissen. Hat er mich angesteckt? Fragen über Fragen. Vor meinem Schläfchen ein Aspro geschluckt. Nun obendrauf noch einen Magenschoner und ein Mexalen. Werde ich am Ende noch „wetterfühlig“? Ich weiß nicht wohin mit mir. Das strahlende Wetter und ich wieder in diesem elenden Käfig gefangen. Analogie zum Haus, zu meinem Körper.

21:02
Mieke kam noch und es wurde ein schöner Abend. Draußen saß ich dick eingepackt, wie ein Terrorist oder eine alte, rheumakranke und sehr, sehr gläubige Muslima. „Pass nur auf, dass dich die Polizei nicht erwischt!“, scherzte Sebastian. Und jetzt, kaum allein, wieder Kopfschmerzen. Selbst Jan, der junge Kerl, beschwerte sich über den Wind. Beide Hände klimpern. Angeblich ist Sebastian nur eine halbe Stunde oben und ich gestörte Kuh muss mir erneut meine Wunden von gestern zu Gemüte führen. Die Schnitte am Schluss waren doch tiefer…? Oder weil die Rasierklinge so glatte Schnitte hinterlässt, verschließen sich diese umso einfacher? Mich beinahe dafür schämen.

Aber vielleicht… Vielleicht gucken wir heute noch mein Video und ich kann mit der Arbeit fürs neue beginnen. Als sei das alte Projekt so lange nicht abgeschlossen, bis er es nicht gesehen hat. Die nächste Panikattacke überschwemmt mich.

21:21
Das Lied von Sevendust läuft im Hintergrund, für das Onlinetagebuch nach einem Lauffoto suchen… „Schöner“ kann man sich die Seele nicht martialisch blutig kratzen. Ich will sterben…

2. Dezember 2017, Samstag „Scheitern in der Königsklasse…“

10:33
Ich hätte längst aufstehen sollen, nicht noch über 1 Stunde auf dem Sofa vergammeln dürfen, vermaledeite Glotze! Vermaledeite Gasthausküche!! 59,9 Kilo um 7:45 Uhr!! Bis dato noch nichts daraus gelernt, nach dem Frühstück eine Entwässerungstablette geschluckt. Ich bleibe dabei, gerade der linke Oberarm sieht unnatürlich breit aus. Die linke Hand vergleichsweise verkümmert, schmächtig. Also warum sollte der Oberarm breiter sein als der rechte, wovon? Und einfach wieder einmal davon ausgehen, das Essen meiner Mutter war viel zu salzig. Vom Fett ganz zu schweigen.
Es war eine scheiß Nacht. Zuerst hat Sebastian geschnarcht, so laut, wie schon lange nicht mehr. Heute niest er in einem fort. Den Abschiedskuss habe ich ihm verwehrt; er ist ins Dorf gefahren, anfragen, ob er einen Termin beim Friseur haben kann und noch Kleinigkeiten besorgen. Ich habe weiter im Buch gelesen, bis 0:45 Uhr. Ich bin fast neidisch, ja, ich werde zerfressen vor Neid, wenn sie von ihrer Anorexie berichtet. Als hätte mein Körper nicht schon gravierendere Probleme genug! Aber was soll man sagen? Selbst in den Videos, aus Zeiten, in denen ich 50 Kilo wog, sehe ich mal dünner aus und dann wieder völlig aufgeschwemmt und mindestens zehn Kilo schwerer! Was habe ich die zurückliegenden Monate versucht? Weniger zu essen? Mehr zu essen mit 4 Stunden Pause dazwischen? Und das Gewicht stagniert und stagniert, um heute auf der Waage mit der 60 konfrontiert zu werden und nur für Unterwäsche und ein bisschen Katheterschlauch 100 g abziehen zu dürfen. Auch ist das wieder so ein Morgen, an dem alles normal erscheint. Alle leben, niemand ist tot, niemand todkrank. Alles schwelgt in Harmonie… Wäre dann wohl nicht ICH mit meinen kruden Ideen, Vorwürfen, Interpretationen, die, wenn ich sie demjenigen an den Kopf werfe, wieder völlig umgedeutet werden. Markus erinnerte mich gestern an ein Streitgespräch mit meiner Mutter, welches ich ernsthaft 2012 oder 2013 aufgezeichnet hatte. Ich versuchte ihr ansatzweise klarzumachen, was bei mir alles aus dem Ruder läuft und welchen Anteil sie dazu beiträgt, beigetragen hat. Sie hat alles widerlegt. Nichts von dem, was ich mir dachte, was ich fühlte, oder um es gleich klar und deutlich zu sagen, „was ich ihr anhängen wollte“, stimmte. Laut ihrer Aussage. ALLES, selbst die Kommas zwischen den Zeilen wurden bagatellisiert und umgedeutet. Und weil wir uns gestern wieder darüber unterhielten, kam ich wie schon damals zu dem Schluss: Ich muss das Problem sein, ich ganz allein, weil ich ja so ein gefühlsgestörter Psycho bin. Wie sonst kann es sein, dass aber auch wirklich JEDE meiner Empfindungen, was meine Umwelt betrifft, falsch sein sollen?! Ich meinte, ich würde es mir noch mal anhören. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob das so klug wäre. Um noch einmal zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Jetzt scheint alles heile Welt zu sein. Für diesen Tag, diese Stunde, diese Sekunde… Und die einzige, die Aufhebens um NICHTS macht, das bin ich. Ich ganz allein. Und so steigere ich mich bereits während dem Frühstück wieder rein, bekomme Panik, sehe die Zeit davon laufen, als ich um 9, um 10 noch da hocke, anstatt die Arbeit aufzunehmen. Ich habe kein Fieber, keine Ausrede! Dass mein Schädel beinahe platzt, zählt nicht. Und ganz plötzlich tut sich da ein überdimensionales Schuldenbuch auf, was ich nicht alles verabsäumt habe. Nicht trainiert, kein Laufband, kein Spazieren, keine Physioübungen, alles schleifen lassen und gefühlt keine einzige Frist mehr bekommen. Bereits alles verloren. Zu viel gefressen, zu viel genascht, zu wenig Kontrolle über mich selbst, zu fett, zu viel von mir und damit ausreichend Projektionsfläche für meinen Hass. Kaum saß ich dann hier am Tisch, er drüben noch auf dem Sofa, die Glotze am Laufen, wurde der eingebaute Mixer in Betrieb genommen und die Unruhe kam auf eine ansehnliche Spitzenrotation. Bin ich bereits stofflich abhängig? Sollten die Tabletten nicht direkt nun in der kleinen Holzschatulle neben dem Sofa stehen und mich regelrecht einladen, sie zu schlucken? Seit 37 Minuten setze ich Pinselstriche ohne Charakter, ohne Schatten und ohne Spuren zu hinterlassen. Leeres, unkonzentriertes Pseudomalen, mir selbst weismachend, die Menge und Masse ergibt am Ende die Struktur…

Du bist SO GUT DARIN, dich selbst zu belügen!

Sagt Markus, wir seien auf einem guten Weg, gut vorangekommen, um selbst den Glauben nicht zu verlieren? Wie soll, wie wird der Tag weitergehen? Die Sonne scheint. Den ganzen Nachmittag wieder auf dem Sofa absaufen? Alles scheint in Ordnung… Aber wehe ich denke daran, mich mit meinen Eltern treffen zu müssen. Nach einer Aussage wie: „Wir hatten ja schon so lange nichts mehr von dir!“; aufgebaut auf schlechtem Gewissen meinerseits und eventuell Verlustängsten mütterlicherseits?

13:41
Gleißendes Licht, die Sonne blinzelt müde durch eine der vielen Einzelscheiben der Terrassentüren. Ich war draußen. Sebastian hat mich angezogen, warm und dick eingepackt und für einen Moment stand ich hinter dem Haus, mit dem Rücken zum Nordwind, im einzigen hellen Streifen auf dem nagelneuen Asphalt, mit Blick in den verwilderten und noch spärlich mit Schnee bedeckten Garten. Keine Vögel. Stille. Frostige Stille. Bis auf die unzähligen Flugzeuge und hie und da der verächtliche Ruf eines Eichelhähers, der gewollt stümperhaft nach Mäusebussard klingt. Tief Luft geholt. Auch Markus meinte gestern, mein Video würde bestimmt so manch einen Zuschauer triggern. Nicht wie ein Vorwurf. Aber nun ein Kommentar, der dies bestätigt; obwohl Sebastian meint, ich würde ja eingängig darauf hinweisen, was nun folgt, und jeder ist immer noch für sich selbst verantwortlich. Die Liebe schrieb, sie konnte es sich nur in Happen ansehen. Ist es wirklich so schlimm? Habe ich eine Verantwortung zu tragen, muss wieder verbergen, was so schon nicht gesehen werden will?

Draußen und auch jetzt beim Blick in die tiefstehende Sonne… Ich bin unterwegs, ich laufe und laufe und laufe, bis mir die Beine abfaulen. Viel zu wenig Klamotten an, weder wind- noch wettergeschützt, kurze Hosen, viel zu dünne Handschuhe und blaue Finger. Die Ohrstöpsel sind das einzige, das irgendetwas am Kopf bedeckt und behelfsmäßig schützt. Aber ich laufe und laufe und laufe. Die Lungen werden nicht müde, das Herz wird nicht müde, die Beine werden nicht müde und der unruhige Geist sowieso nicht. Ich will mein Leben zurück. Meine so hart aufrecht am Leben erkämpfte Ausdauer, meine Muskeln, meine Robustheit, mein von kaum etwas beeindrucktes Immunsystem, meine Abhärtung…

Stattdessen werde ich jetzt mit dem Rollator aufs Sofa kriechen, weil sich das Mittagessen bis in den späten Nachmittag hinein verschieben wird, einen Proteinshake mitnehmen und mich bei jedem einzelnen Schluck schlecht, überflüssig und fett fühlen. Die Glotze wird die Aufgabe der Natur vor der Terrassentür übernehmen. Die Vögel werden abgelöst von krachmachenden Menschen. Ich spüre eine leichte Depression. Ich könnte auch versuchen weiter zu malen. Aber ich brauche jetzt den Heizstrahler, denn ich habe keine Abhärtung mehr. Ich habe NICHTS mehr von dem, wofür ich Jahrzehnte gekämpft habe. Ich bin ein Waschlappen geworden, der selbst im Hochsommer einen Heizstrahler benötigt. Und das, man möge sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen, OHNE Anorexie, ohne ein Hungerhaken zu sein, der keinerlei Fettschicht am Körper mehr besitzt, die ihn wärmen könnte. Nein. Ich bin fett. Hast du gehört?! FETT!!! UND UNBRAUCHBAR BIST DU, KÖRPER!!

Die Rechte klimpert…

19:16
Ein Räucherstäbchen, fünf Bonbons zum Nachtisch und die Lampe auf den Eichelhäher ausgerichtet. Zum Abendessen, dem eigentlichen Mittagessen, gab es Salat aus Rotkohl. Mehr nicht. Sebastian ist nach oben gegangen, sicher noch für 1 Stunde, und ich könnte, ich sollte, ich müsste… Aber stattdessen versuchen zu malen. Wie auch gestern mit verkrüppelt verkrampften Fingern den dünnen Pinsel halten? Zu lauter Musik, um mich jedes Mal zu erschrecken, wenn die Tür hinter mir plötzlich aufgeht? Mein Rücken ist angepisst. Mir ist schwindelig. Aber kein Fieber. Gibt es noch etwas zu sagen? Irgendetwas von Bedeutung?

DU?!! Und BEDEUTUNG??!!!

Die Panik packte mich vor, während und nach dem Essen. Die Angst wollte mich auffressen, erwürgen, strangulieren. Und ich wusste nicht warum. Nachmittags das Fernsehprogramm bescheiden, mir deshalb das Kindle geschnappt und weiter im Buch über Traumata und deren Entstehung so manch einen hilfreichen Satz gelesen. Der mich in dem bestätigen sollte, was ich mittlerweile weiß, was auch mein Gefühl mir sagt, dass das alles nicht einfach von NICHTS kommen kann!!

Aber wenn es so einfach wäre, wenn ich nicht scheinbar von Geburt an bereits an allem die Schuld tragen würde… Obwohl auch das zu lesen war, und beinahe alle Opfer/Überlebenden eint: die Schuldübernahme. Was sehr erstaunlich war, waren die Erinnerungen, die während dem Lesen plötzlich wieder auftauchten und das Gefühl, das Kind würde jetzt tatsächlich mit mir sprechen. Es wurden immer mehr Erinnerungen, als ich plötzlich die wahnwitzige Idee hatte, für dieses Kind eine fiktive Missbrauchsgeschichte schreiben zu können. Mit den vermeintlichen Tätern, mit dem ganzen Schweigen, dem Bestreiten. In meinem Kopf erschien es plötzlich der logische, nächste Schritt zu sein. Das zu schreiben, immer wieder zu lesen und darauf zu warten, was in mir drinnen passiert. Bleibt es bei der Idee oder setze ich sie in die Tat um?

Der Flügel ist gut ausgeleuchtet, aber dafür erkenne ich die einzelnen Farbklecks in den Schälchen nicht. Ich brauche unbedingt eine ordentliche Lampe… Und Katzenhaare in der Farbe. Der Mond scheint hell, die Waldkäuze beginnen zu singen und wie früher müsste ich jetzt draußen sein, ihnen lauschen, ihnen antworten…

Musik an, ganz weit nach vorne gebeugt, mit der Nasenspitze dicht über der Leinwand…

20:51
3 Stunden und 30 Minuten gemalt, machen insgesamt 1133:30h. Das Musikprogramm spuckte einen „Laufklassiker“ nach dem anderen aus, allesamt von 2010. Mir die Seele aus dem Leib schreien! Um den Schmerz nicht zu spüren. Und irgendwo mittendrin läuft das erste Lied meiner „Suizid-Playlist“. Ich fühle so eine schwere Sehnsucht, ich möchte… Und dann denke ich an Sebastian, wie dieser dauerfröhliche, alberne Kerl nichts ahnend von der Arbeit nach Hause kam… Und seine kleine Welt brach bereits mit dem ersten Zettel an der Eingangstür teilweise in sich zusammen, um spätestens bei Ankunft im Wohnzimmer klirrend komplett zu Bruch zu gehen. Es tut mir leid. Aber würde mich das wieder abhalten?

https://www.youtube.com/watch?v=uywIddkYRv4

13. Mai 2017, Samstag 11:05

59,4 um 9. Mit einem schweren Seufzer zur Leinwand greifen. Die Sonne scheint, scheint nicht. Die Spatzen kommen zum neuen Buffet. Eigentlich verantwortungslos, die feinen Sämereien direkt auf die Terrasse zu werfen, aber Familie Goldammer sucht nur dort ihr Essen… Und schon kommen sie. Ich hatte einen Traum im Traum. Ich hatte das Haus verlassen, ohne Sebastian Bescheid zu sagen. Den Rollstuhl zu Hause gelassen und irgendwie landete ich an der Bushaltestelle unterhalb vom Gasthaus. Wie sollte ich es nach oben schaffen, den kleinen Abhang hoch? Da erinnerte ich mich daran, dass ich träumte und versuchte es mit Klartraumtechnik, um das Geschehen aktiv zu beeinflussen. Anstatt nun eine Ewigkeit an Ort und Stelle nicht weiter zu kommen, könnte ich mir doch genauso gut vorstellen, irgend eine magische Kraft zaubert mir meine Laufschuhe her, zieht sie mir an… Und dann hatte ich sie an den Füßen, was aber nicht gleichbedeutend damit war, nun wieder laufen zu dürfen. Stattdessen fühlten sich meine Beine regelrecht aufgelöst an, klapprig und sie zitterten vor Schwäche. Ich verschwendete meine ganze Energie auf den Gedanken, mich nun allein ohne Gehhilfe in Bewegung zu setzen. (Sonja war gestern ganz erstaunt von meiner Erzählung, früher aber auch wirklich jeden noch so steilen Berg laufend ohne Probleme und Atemnot erklommen zu haben. Sie ist keine Ausdauersportlerin.) Nun aber sah ich die Straße vor mir, sah den Lichteinfall und ich erinnerte mich plötzlich an früher, der Anblick tat so ungemein weh und weckte zugleich so viel Wehmut, dass ich sterben wollte. Über diverse Umwege entdeckte mich meine Mutter. Eigentlich wollte sie soeben mit den Nachbarsdamen in die Kirche fahren, aber nun stieg sie noch einmal aus und klammerte sich förmlich an mich. Sie wollte mit mir nach Hause gehen. Erst hatte sie nur den rechten Arm auf meine Schultern gelegt, doch je länger wir dieses kleine Stückchen neben dem Gasthaus bergab gingen, wanderte ihre Hand weiter und weiter hinunter zu meiner Rechten. Ich sah, ich spürte, dass sie meine Hand fest umklammern möchte. Mir widerstrebte das und ich versuchte sie abzuschütteln. Aber ich war zu gelähmt und schon glitten ihre Finger zwischen meine verkrampften und sie hatte gewonnen. Unten an Kreuzung und Bundesstraße angekommen, war die Verbindung komplett. Es fühlte sich beinahe an wie eine sexuelle Vereinigung. Oder ein physisches Band zwischen siamesischen Zwillingen. Es war mir so unangenehm und zugleich fragte ich mich wieder, in welchem Maße ich mich schuldig fühlen müsse, um meine Gedanken und meinen Widerwillen auszugleichen. Oder verdrehe ich die Tatsachen? Habe mich in dieser Fusion wohl gefühlt? Will es nur nicht wahrhaben?

Leise beginnt es zu tröpfeln. Markus hatte vorgestern Nacht angerufen. Eineinhalb Stunden dauerte das Telefonat erneut, an dessen Ende er mich fragte, wie jedes Mal die letzten Male, wie hoch meine Suizidgedanken auf einer Skala von 0-10 aktuell angesiedelt seien. Ich dachte kurz nach, dann: „Phasenweise bei 7.“. Darauf meinte er, ich könne mich immer noch einweisen lassen, sicherheitshalber. Zudem hatten wir uns darüber unterhalten, warum Brigitte so sehr darauf versessen ist, in diversen Symptomen, die meines Erachtens wahrlich mehr als eindeutig sind, keinen Missbrauch dahinter zu vermuten. Darauf, dass Menschen „unterschiedlich“ sind. „Wenn dem wirklich so wäre, hätten alle Symptomkataloge keinerlei Bewandtnis!“, und er gab mir Recht. Ich fühlte mich erneut wie ein Nestbeschmutzer, schlecht, schuldig ihr gegenüber, aber es ist und bleibt Fakt, dass an diesen markanten Punkten unsere Meinung eklatant auseinanderklafft. Trotz aller Individualität sind wir von einer Rasse, funktionieren nach denselben Verhaltensmustern; und auch ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jemand mit massiver Selbstverletzung (und nun spreche ich wahrlich nicht von mir, aber sie hatte mir aus ihrer Praxis erzählt) missbraucht wurde! Und nicht „einfach nur“ eine Essstörung hat, weil die Mädchen in der Klasse dünner waren als man selbst(als Beispiel). Wer weiß, was ihre Patienten noch so verdrängt haben? Oder ihr nicht mitteilen? Was habe allein ich den ersten beiden Therapeutinnen verschwiegen?!

Scheinbar entwickle ich Sodbrennen; die letzte Kotzparade hat mir nicht gut getan, oder die erneuten Antibiotika. Ob ich heute rausfahren wollte? Ich weiß es nicht. Eigentlich hätte ich nach dem Frühstück wieder einschlafen können und im Traum dachte ich, aus dem Traum im Traum nicht mehr aufzuwachen, die Augen nicht mehr öffnen zu können, offen halten zu können. Plötzlich stellen sich Kopfschmerzen ein. Ist wohl das Wetter. Wann ist meine Oma gestorben? Dieser erste, aktiv erlebte Tod in der Familie, der so einen Schaden zusätzlich hinterlassen hat? War es etwa zum Zeitpunkt meines Selbstmordversuches? Das wäre schon ein erstaunlicher Zufall.

Das Diktieren lenkt zu sehr ab, aber wie sehen die Alternativen aus? Domian? Seine infantile Art geht mir nun nach nur wenigen Sendungen dermaßen auf den Keks, ich halte ihn schon wieder nicht aus. Musik? Ehrlich? Davor habe ich noch mehr Angst! Was diese in mir auslösen könnte. Gestern Abend doch noch so klug, mir selbst einzureden, dass die Angst vor der Angst keine Rechtfertigung dafür ist, mich prophylaktisch abzuschießen. Doch ich bin wie ein Junkie, dieser Gedanke, wird er ins Gedächtnis zu rufen, genügt völlig, die Sehnsucht danach bis in ein unerträgliches Maß zu steigern.

Die sich im Einsatz befindlichen Pinsel sind zu stumpf geworden; es liegen zwei neue parat, aber wie immer wird der Moment des Wechsels so lange hinausgezögert, bis es einer gesamten Überarbeitung mit dem neuen Werkzeug an der vorausgegangenen Arbeit bedarf. Schön blöd. Scheiß Geizkragen.

Genauso plötzlich bleibt der Blick draußen im Nichts hängen. Ein dumpfes Gefühl auf dem Brustkorb. Ich will nicht mehr. War ich überhaupt schon bei der Sache? Nein lautet die Antwort, die Hand längst so desolat, dass der dünne Pinsel ohnehin nur optisch eine Präsenz darzustellen scheint. Spüren kann ich ihn sowieso nicht. Zu allem Überfluss meldet sich da Familie Ischias, zudem irgendwie diffuse Knochenschmerzen in Armen und Händen. Es ist zu spät, einfach zu spät, um aufzustehen und erfrischt ans Werk zu gehen. Das Basteln am Video hinfällig, ebenfalls, die Aussagen von Tag zu Tag ident und lösen bei mir bereits in der Entstehungsphase Panikattacken aus. Aber wurde mir das gestern bewusst? Oder habe ich es gar geträumt? Dass mit jedem Erinnerungsfetzen, und sei er noch so fragmentiert, meine Geschichte immer mehr Struktur und Form annimmt? So dachte ich gestern über diverse Erinnerungen nach, die eine Verbindung zu anderen Flashbacks zuließen.

Der Rücken gibt den Geist auf, die Füße schlafen ein. Eine Baustelle nach der anderen. Und Fine biegt mit einer erbeuteten Maus um die Ecke, während der Donner immer lauter wird…

12:55
Da taucht ein Fragment aus dem Traum auf. Fand vorher statt. Meine Mutter machte mir alles nach. So hatte sie zu Hause unterschiedliche Säcke mit Vogelfutter angesammelt, die sie mir nun großzügigerweise übereignen wollte. War es ein Fehler, das Angebot anzunehmen? Es fühlte sich nicht richtig an. Aber die Geschichte drumherum habe ich vergessen. Lediglich das weiß ich noch, dass ich zurück zu Hause angekommen große Schmerzen in den Beinen hatte. Diese Missempfindung begleitete mich die ganze Nacht hindurch, hatte sich in den Traum gemischt und vermittelte mir dort den Eindruck, nie wieder weg zu gehen. Ich hatte zu weinen begonnen und Sebastian nahm ich nicht ernst. Darauf war ich erneut aus dem Haus geflohen…

Im beim Frühstück davon zu berichten, löste eine halbe Krise aus: „Ja, genau! Weil gerade ICH es nicht bemerken würde!“. Und da fällt mir noch etwas ein: Die Stimmung da zwischen den Futtersäcken, die vereinzelt auf den Stufen hoch zu Gäste- und Kinderzimmer drapiert standen, war wie bei dieser einen Weihnachtssituation, die immer wieder bei Dissoziationen und Flashbacks auftaucht. Oder zumindest stelle ich augenblicklich die Assoziation dazu her. Ob es eine Bewandtnis hat oder nicht, sei dahingestellt. Was war denn mit dieser einen Weihnachtsfeier? Es gab wie immer viel zu viele Geschenke, es war schön, dass mal die ganze Familie (zumindest der innerste Zirkel) in einem Haus vereint war. Und es gab Weihnachtsprogramm in der Glotze, die Muppetshow…

Keine Stunde geschafft und nach dem Zähneputzen wollte ich aufs Laufband, aber auch dazu unfähig. Die Sonne kommt raus, der Himmel im Süden bleibt dunkel und man müsste den Hügel erklimmen, um eine Wettervorhersage machen zu können. Den nächsten Bericht für Mieke abgearbeitet. Der Pirol vermittelt tropische Stimmung, und erscheint gar nicht so weit weg zu sein, aber erneut umsonst in Bewegung setzen? Käme er doch zum Restaurant. Das wär’s dann!

Vermag kaum die Brille aufzusetzen, um draußen einen Spatz mit Feder im Schnabel balzen zu sehen. Vielleicht den kurzen Lichtblick nutzen und zumindest vors Haus fahren… Schon kommt das schlechte Gewissen und sagt, ich solle den Rollator nehmen. Lasse ich mich gehen oder kann ich wirklich nicht? Und was würde passieren, hätte man mich hypnotisiert und fordere mich auf, aufzustehen und drei Schritte zu gehen? Schenke ich dem Geschwafel von Markus ernsthaft in meiner Verzweiflung Glauben? Was bleibt mir sonst? Akzeptanz oder Tod…

Kindheitserinnerungen und das linke Bein beginnt zu krampfen. Die Selbstanalyse endet nie!

18:18
Eine kleine Ausfahrt, etwas mehr als 2 km. Oben am Hügelkamm entdecken zu müssen, dass dort bereits falsche Akazie und Holunder blühen, den betörenden Duft in die Nase zu bekommen, gab mir einen Stich ins Herz. Und ja, ich bin mir nun sicher, dass mein Selbstmordversuch mit dem Todestag meiner Oma in etwa zusammenfällt. Die ganze letzte Fahrt den Berg runter hatte ich nichts anderes mehr im Kopf als diese weißen Blüten, ich dachte an den eigentlichen Plan für den 21. Mai mich draußen in den Schatten des großen Hollerbusches zu legen und den Vögeln zu lauschen, während ich abtreten darf. Ganz plötzlich kommen jetzt auch noch Tränen. Es wird Abend, die Sonne geht unter. Der Strick um meinen Hals wird enger und enger. Ich denke an den baldigen Sommer, sehe zeitgleich aber auch schon wieder den Herbst dahinter, das Sterben, den Winter… Und am Ende steht der Zusammenbruch. Was hat mich so ruiniert? Warum lebe ich nur für den Tod?… Kindheitserinnerungen mischen sich mit den Naturgeräuschen von draußen, ich sehe schöne Momente und will bei dessen Anblick doch nur abkratzen!

Sebastian sagte gestern: „Das war Schicksal, dass wir beide zusammen gekommen sind! Davon bin ich überzeugt!“. Ich sehe ihn sterben… Was ist das nur für ein verdammter Fluch, mein gesamtes Dasein für den Tod zu verschwenden?! Hätte ich nie leben sollen? Dürfen?

1 mg Temesta… Bitte hilf mir!

21:04
Das bestehende Material wurde verarbeitet. Aber die Krämpfe nehmen kein Ende. Zu bereits 2,6 Hydal und zwei Retard nach 20 Minuten weitere 2,6 mg der schnellen Morphiumsorte. Ich weiß nicht, was ich getan haben soll. Gestern zu viel bewegt, heute zu wenig, zu viel Sonne, zu viel Wärme. Eigentlich ist es unmöglich, aber das Gefühl in meiner rechten Wade gibt mir zu verstehen, dass sie sich gerne übergeben möchte. Als hätte nun SIE Sodbrennen, wäre übersäuert und möchte kotzen vor Missempfindung. Das rhythmisch wiederkehrende Zusammenziehen der Muskulatur gleicht auch einem Würgereflex. Morgen steht Muttertagsessen an, und wir haben uns dazu entschieden, dieses alleine Zuhause einzunehmen und sich dann nachmittags mit meinen Eltern in Jennersdorf zu einem Eis zu treffen. Na mehr brauche ich nicht… Sterbeneurose ahoi!!!

Mit oder ohne Abschuss und SVV?

8. März 2017, Mittwoch 10:34

Es ist alles beim Alten geblieben. Ich hasse mich immer noch, halte meinen Anblick im Spiegel nicht aus, Rumpelstilzchen unterstützt mich bei dieser Art von Verachtung und ich bin müde. Aber heute Nacht wenigstens einigermaßen gut geschlafen. Schon tun sich andere Fragen auf: Was mache ich falsch, was mache ich anders, was habe ich an mir, das ich abstellen müsste? Nicht länger freundlich sein? Endlich die Schnauze halten, mich bedeckt halten?

Der Alarm meiner Stoppuhr lässt mich wissen, dass ich mich allmählich auf den Weg zur zweiten Physiotherapieeinheit begeben sollte. Doch davor noch ganz kurz angerissen der Grund für all diese Fragen: Als ich soeben vom Frühstück kam, saß ein Mann beim Blutdruckmessgerät. Ich begrüßte ihn, wie ich jeden hier freundlich begrüße. Er antwortete, mir kam erst die Stimme und dann das Gesicht bekannt vor. Schon stand er vor mir und meinte, ob ich ihn nicht mehr erkennen würde… Ja klar! Einer meiner fünf Tischnachbarn bei der ersten Reha 2013. Ebenfalls um die 50. Aber was er mir nun eröffnete, ließ mich sprachlos zurück. Ich hatte damals sehr wohl bemerkt, dass der jüngere Tischkollege mit seiner schweren körperlichen Behinderung durchaus für mich zu schwärmen schien. Hat er mir damals doch verraten, noch nie eine Frau gehabt zu haben. Aber nun sagte der Ältere: „Nicht nur… (Ich habe seinen Namen vergessen) war damals verliebt in dich. Ich war auch total verliebt in dich!“, in seinem speziellen Deutsch mit slowenischem Akzent. Was hätte ich dazu sagen sollen? Ich lächelte irritiert, verlegen. Schon kam die nächste Frage: „… Und dein Freund?“. Mich an diesen Gedanken klammernd: „Der kommt heute zu Besuch!“.

Erst eine Affäre und jetzt das! Ich fühle mich nicht geschmeichelt, ganz im Gegenteil, regelrecht unwohl und irgendwie verängstigt.

Da beginnt das linke Bein erneut zu krampfen. Mich auf den Weg machen…

20:41

Ich habe ein Problem. Ich habe ein Problem damit, wenn ich den Eindruck gewinne, eine Belastung zu sein. Wie eben gerade bei der Schwester, die kurz angebunden war und mir doch noch rasch ins Bett helfen wollte.

Ich hatte ein Problem damit, nachmittags unten im Eingangsbereich beim Malen die Laufmusik von 2010 zu hören. Dazu der Lichteinfall von draußen, das Wetter und ab und an in Sportklamotten gehüllte Menschen, die vorüber zogen. Am Himmel die Krähen beim heiteren Spiel… Wieder und wieder die Augen geschlossen und mich daran erinnert, wann ich welches Lied an welcher Stelle meiner Strecken zum ersten Mal und auch am häufigsten gehört habe. Mir vorgestellt, wie ich dazu zum Intervalltraining ansetze… Da geht der Refrain los, mit einem Tosen, einem mitreißenden Rhythmus, das Schlagzeug wird zum Pulsschlag, die Melodie geht in die Blutbahn und mit jedem Schritt schneller und schneller meint man, man würde fliegen…

Neue Perspektiven finden“… Ich will mein Leben zurück!

5. Februar 2017, Sonntag 19:54

Das Foto auf dem Desktop anstarren… Malen nicht geschafft, am Video nur winzige Schritte… und sonst? Die letzten 2 Stunden Büroarbeiten, mittags auswärts Essen mit meinen Eltern. Die beiden verstohlen beobachtet und so haarscharf daran vorbei geschlittert, ohne Vorwarnung in Tränen auszubrechen… Beide sterben gesehen…

Und nun dieses Foto… Quäle mich selbst… Nicht mehr schlucken können und mein Denken hängt seit Stunden in einem Alarmzustand: Wann kommt der Trigger? Wann verliere ich die Kontrolle, drifte ab?

Kindheitserinnerungen schwemmen mich mit sich, zusammenhangslos, harmlos… Wohin geht die Reise? Und ich sah die Straßen, dieses milde Klima: „Früher wäre ich heute sicher in den ganzen gurzen Pants los gerannt…“; was für ein Schmerz… Jedes Wort triggert weiter in diese Scheiße rein, die Kotze hängt im Hals, aber nichts geschieht. Kein Anfall. Kein Aussetzer. Kein Flashback. Nichts als dieser gefühlte beschissene „Trommelwirbel“…

laufen005

4. Januar 2017, Mittwoch 11:26

Das Tagebuch dem Speiseplan vorziehen…

57,6 um 7. Eine weitere Schale Tee; „Innere Balance“, so der klangvolle Name. Der Himmel teils bewölkt, das Gehirn überflutet von Erinnerungen. Ich meine das Knirschen der Hufe auf dem Schotter in den Ohren zu haben. Diese knallrot und eiskalt. Der Atem wird sichtbar, in der Ferne rufen Nebelkrähen…

Einmal tief Luft holen. Als ich mich erneut an den Tisch setze, bleibt das rechte Bein in Bewegung. Doch bis ich zur Kamera gegriffen habe, wird dieses Phänomen natürlich eingestellt. Womit soll ich anfangen? Was in die kostbare Zeit hineinstopfen? Was bedarf einer weiteren Erläuterung und was darf kurz gehalten oder links liegen gelassen werden?

Definitiv die zurückliegenden Sätze!

Und doch werde ich nicht müde das zu umschreiben, was soeben geschieht. Als hätte das Festhalten der friedlichen Gegebenheiten etwas Beruhigendes für mich. Würde mir einen Bezug zur jetzt stattfindenden Realität ermöglichen… Ein schwarzes Amselmännchen wird von den beiden neuen Apfelhälften, die ich vor wenigen Minuten im Restaurant aufgetischt habe, magisch angezogen. Auch in meinem Traum kamen Äpfel vor. Gammelige Äpfel. Aber dieser Teil vom Traum erscheint mir nicht wichtig, zumal dieser aus vielen unterschiedlichen Sequenzen aufgebaut war. Klarerweise für mich die Wichtigste jene, in der ich gelaufen bin. Oder es zumindest versucht habe. Ich war mir eines Fehlers bewusst geworden und musste bitter bereuen, nicht anders gehandelt zu haben. Nun sei aber auch erwähnt, was der Chirurg zuletzt zu mir gesagt hat, nachdem ich meinen Verdacht äußerte, die Zertrümmerung vom Fersensporn könne die Stressfraktur ausgelöst haben. „Ganz im Gegenteil!! Die Behandlung mit Ultraschall kann eine Stressfraktur sogar behandeln und die Heilungsphase halbieren!!“. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, wegen dieser 6 Monate den Anfang vom Ende besiegelt zu haben. Nun ist längst alles verloren! Und schmerzt noch mehr zu hören, da hätte es Alternativen gegeben… Man hätte können… Ich hätte sollen… Es wäre besser gewesen… Aus und vorbei!!

Im Traum hatte sich dieser Fehler zumindest dahingehend ausgewirkt, dass meine Strecken stark reduziert wurden. Von Halbmarathon keine Rede, nicht einmal von dem mir selbst gestellten Ziel mindestens 13 km zu schaffen, ganz zu schweigen davon täglich zu laufen. Ich konnte mich selbst nicht beobachten: Wurden die Pausen länger, die Etappen dazwischen kürzer? 4, immer wieder 4 km, schon nicht mehr. Abschließend der eine Lauf und jener endete tatsächlich mit 10 km vor dem Gasthaus. In meinem Kopf aber die fixe Idee, 11 schaffen zu müssen. Ich hätte ja auch bergab laufen können, nach links oder nach rechts; aber ich stand einfach nur da, unter meinem Heimatshaus inmitten dieser beiden Optionen, mitten auf der Bundesstraße und meine Oberschenkel zu schwach. Der Geist zu schwach.

Sodann folgten weitere Episoden mit anderen Themen. Wer weiß, vielleicht wären diese sogar noch viel wichtiger für mich und mein Erinnern, würden viel mehr über mich aussagen… Aber mir fehlt die Zeit. Stattdessen meinen körperlichen Zusammenbruch erwähnen, abends auf der Couch. Die Tage des Besuchs eindeutig zu anstrengend. Aber wie soll sich ein normaler Mensch davon abgrenzen? Hätte ich regelmäßig nach einer Stunde den Rückzug ins Schlafzimmer antreten sollen? Um dort was zu machen? Blöd auf dem Bett zu liegen und einfach nur NICHTS zu tun?!

Also ich schlief, als Sebastian kurz vor 19:00 Uhr ins Wohnzimmer trat und ich erschrak fürchterlich. Desolat, als hätte man mich soeben aus einer tiefen Narkose gerissen. „Das Telefon hat geklingelt, gerade eben…“. Markus! Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar, ob ich ihn zurückrufen kann. Was ich von den zurückliegenden Wochen halten soll, die von ihm kein Lebenszeichen gekommen war, zumal der letzte Satz damals zu mir gelautet hat, wir sollten nun jede Woche telefonieren.

Da fällt mir ein, was ich noch erwähnen möchte und ich tunlichst nicht in Sebastians Beisein diktieren sollte. Es wäre ihm peinlich, würde ihn vielleicht sogar verletzen oder in irgendeiner Form von mir weggestoßen. In großer Angst vor seinem klassischen „HMMM…“, inklusive beleidigtem Tonfall. Insofern nur noch eine Zusammenfassung zum 1,5 stündigen Gespräch mit meinem ehemaligen und irgendwie immer noch Psychoanalytiker. Wie auch schon im letzten Video erwähnt -er bleibt bei seiner Theorie. Für ihn steht der Täter fest. Felsenfest. Denn eine solche psychische Verwirrung können nur unter diesen speziellen Konstellation mit diesen speziellen Statisten entstehen. Egal was ich ihm erzähle, egal wer für mich noch infrage käme, zumindest gefühlt in mir etwas auslöst. Dann ist immer die Rede von „Deckerinnerungen“. Er zählte mir auch einige Dinge auf, die ich mir ansehen sollte (Folgen von Domian, Filme) und zum Abschluss sollte ich ihm meine Panikattacken erläutern, wobei er feststellte, diese würden immer von „invasiven“ Auslösern provoziert. Lebensmittelaufnahme dringt ja auch in den Körper ein, wobei die Volkshilfe ebenso in meinen Alltag und mein Versteck eindringt.

Und schon ist es 12, ich muss mich sputen… Vorgestern Nacht kam es unerwartet zum Austausch von Intimitäten. Obwohl… ich spielte dabei eher den passiven Part, der ganze Körper verkrampfte. Angestrengt dachte ich währenddessen nach, ob das nun schön oder das absolute Gegenteil wäre. Hinterher… und ganz besonders gestern am Morgen darauf, erhielt ich meine Antworten: NEEEEIIIIN!!!

Auch heute noch in meinem Kopf das, was gemacht wurde. Im Schlafzimmer dunkel wie eh und je, und dennoch die Erinnerungsbilder in meinem Schädel hell ausgeleuchtet. Was ER da mit mir gemacht hat! Erst recht ob meiner Unfähigkeit, mich selbst zu bewegen, wird der Eindruck eines „Gebrauchs“ („Missbrauchs“) deutlich… Nur für mich, nur für mein Empfinden! Er hat nichts falsch gemacht, hätte nichts besser machen können, ich ticke einfach so! ICH bin das Problem, wenn schon. ICH und meine verschrobene Sexualität. Das Benutzen erst recht untermalt von Kopfkino, dem ich mich ausliefern durfte/musste. Wie geschmacklos von mir mir vorzustellen es sei Willi, der sich nachts mit seinen locker 180 kg in meinem Kinderzimmer auf mein Kinderbett setzt, sodass die Matratze eine Mulde bildet, in die das kleine Mädchen hinein fällt. Während sich eben Sebastian mir nähert und mit seinem nicht minder hohen Gewicht meine an meine 57 Kilo angepasste Matratze arg in Bedrängnis bringt, sie nachgeben lässt und ich deswegen auf die Seite gerollt werde… Und als er mich voll Liebe berührt, ist es in meiner Fantasie der fette Drecksack mit seiner widerlichen Glatze, seinen alten, verschrumpelten Händen, mit denen er im Garten Maulwürfe tot schlägt, die ich doch so sehr liebe…

Kein Wunder? Kein Wunder, dass ich mich anschließend und die Tage darauf bis jetzt irgendwie dreckig fühlen muss? Benutzt? Beschmutzt? Mir wird schlecht. „Schau dir ‚Feuchtgebiete‘ an.“, lautete gestern die Aufforderung. „…Ich glaube, das kann ich nicht…“; alles an mir zog sich zusammen. Den Katheter seitdem noch mehr als Dauervergewaltigung wahrnehmen -da brauche ich nicht noch „geschmackvolles Kino“, um diese Fehlwahrnehmung noch mehr als meine ganz persönliche Realität zu etablieren.

Hätte er gestern nicht daneben gesessen, hätte ich Markus dies auch noch erzählt. Ob ich ihm nun traue oder nicht.

Auf der Geraden in Richtung 2 h an der Leinwand, kurz vor knapp der Lähmung wegen zum Einbruch gekommen. Mir dabei sogar noch 15 min aus dem Ärmel geleiert, die wahrlich nichts mehr mit Kontrolle am Hut hatten. Beide Hände nun kaputt. Die Nase zubetoniert von der permanenten Kopfhaltung beim Malen.

Ich wünschte, ich wäre keine Frau. Wünschte mir, asexuell zu sein. Regelrecht androgyn, jenseits von jeglicher Geschlechtlichkeit. Keine Brust, kein Geschlechtsteil, keine Ausscheidungsorgane.

19:50

Um 15:22 aus dem Schlaf heraus das nächste sekundenlange Blackout mit Dejavue und Panik…

Das Kind in mir…

…brachte mich heute bei der letzten Familienfeier im Gespräch über ein anderes, gequältes Kind zum Weinen…

Trommelwirbel…

ENDLICH!!!!!

30. Oktober 2016, Sonntag 18:40

Der Heizstrahler müht sich an meinen Füßen ab, um die toten Geister wiederzuerwecken. Der Plan ist fix geschmiedet: Ich werde wieder in Reha fahren. Neben mir das Stövchen mit einer Schale Kräutertee darauf. Die Hände waren an der Grenze zu Blau, als ich nachhause kam. Völlig unterschätzt und verkalkuliert, dass das heutige 14:00 Uhr nicht dasselbe ist wie das gestrige. Es ging nicht gar so gut, dennoch kämpfte ich mich voran und schaffte 75 min. Am Bahnübergang erinnerte ich mich wieder an diesen einen verhängnisvollen Lauf, der mein Ende hätte bedeuten können. Als ich erst in letzter Sekunde nach rechts sah, den Zug erblickte und eine Vollbremsung direkt vorm Gleis hinlegte, während das Ungetüm bereits an mir vorbei rauschte. Wie oft hatte ich überlegt, mich vor den Zug zu werfen? Wie oft habe ich diesen Tag verflucht, an dem ich ihn nur knapp verfehlt habe? Wie sehr hat das meine Todessehnsucht geschürt?

Markus‘ Worte gestern… Habe ich ihm zum 1. Mal geglaubt? Wieder Hoffnung bekommen? Den Glauben an eine bessere Zeit, in der ich wieder laufen darf? Der Traum war bunt und doch belanglos. Mit dem muffigen Gefühl, von jeglicher Erkenntnis Lichtjahre entfernt zu sein. Bis hin zu diesem ernüchternden Eindruck, dass mir nichts passiert sein kann! Denn wie sonst könne ich hier so entspannt im Bett liegen? Entspannt meinen Traum Revue passieren lassen? Unmöglich! Und Rumpelstilzchen tobte. Den ganzen Tag über. Warum habe ich der Psychiaterin nicht diesen einen, vermutlich entscheidenden Befund vorgelegt? Wenn sie schon der Meinung war, ich sei mit meiner MS bei einer Koryphäe in Graz? Was hält sie dann vom Chef von Neurologie und Psychiatrie der Universitätsklinik? Dieser hatte doch als einziger Markus‘ Diagnose ansatzweise übernommen und zum 1. Mal stand von einer externen Person in einem Befund über mich NICHT Borderline Persönlichkeitsstörung! Brigitte ist doch an dieser Formulierung so sehr interessiert… auch ihr kann ich das Schreiben zeigen.

Ich will trainieren, ich will mein Leben zurück!! Und als ich die Sonne untergehen sah auf meiner alten, so sehr geliebten und viel frequentierten Laufstrecke, war mir zum 1. Mal nicht nach Weinen. Frohen Mutes? Oder einfach nur so sehr mit meiner Aktivität beschäftigt? Kurz davor diese als Alternative für das Verlorengegangene anzuerkennen? Die Stoppuhr lief, die GPS-Uhr lief und letztere lieferte keinerlei verwertbaren Zahlen.

Der Kilometerzähler vom Auto sagte, es seien etwa 750 m. Die Musik auf volle Lautstärke, all die alten, so sehr favorisierten Lieder, mit denen ich Stunden, Tage, zusammengerechnet vermutlich Monate laufend verbracht hatte. Dieses große Kapitel meines Lebens, 14 Jahre Langstreckenläufer. Und eben statt mich der Wehmut zum Fraß vorzuwerfen…

Otto Normalbürger nennt das Selbstmitleid!!

Sang ich wie in alten Zeiten leise mit. Die Texte ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen. Dagegen überflüssig, dass es jetzt gerade zu krampfen beginnt. Ich wollte noch ans Video. 1 h gemalt. Zumindest unterm Strich eine bessere Bilanz. Da muss der Schmerz als Retourkutsche wohl oder übel sein… 611:15…